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ÖFFENTLICHE BAUTEN • PUBLIC BUILDINGS

































            ÉCOLE DE COMMERCE

            IN SIERRE



            Entwurf • Design Bonnard Wœffray Architectes, CH-Monthey


            Mit der Einführung diverser Fach- und Berufsmaturen an der ECCG
            Sierre nahm die Zahl interessierter Jugendlicher rasant zu. Die Pri-
            maner und Studenten der Kleinstadt machen mittlerweile ganze 12
            Prozent der insgesamt 17.000 Einwohner aus. Nicht zuletzt wegen
            seiner direkten Bahnhofslage ist der Neubau des Schweizer Archi-
            tektenduos Bonnard Wœffray über die Stadtgrenze hinweg attraktiv.



            von • by Stephan Faulhaber
            J ede Verweigerung eines Tests oder Examens wird mit der Note 1 bestraft“, heißt es im
              Schulreglement. Was zunächst nach einem reformpädagogischen Ansatz klingt, ist
            schlicht auf die umgekehrte Zahlenfolge im schulischen Bewertungssystem der Schweiz
            zurückzuführen. Solche Missverständnisse sind an der École de Commerce et Culture gé-
            nérale (ECCG) Sierre undenkbar, auch wenn sich die regionalen Kulturen innerhalb der
            Schweiz durchaus unterscheiden. Gerade diese Unterschiede macht sich die Handels-
            und Fachmittelschule zunutze: durch bilingualen Tandemunterricht. Je ein deutsch- und
            ein französischsprachiger Schüler arbeiten hier für insgesamt 1.200 Stunden im „Zweier-
            team“. Synergetische Interkulturalität. Inkludierte Räumlichkeiten der Fachhochschule
            Sierre fördern überdies den Austausch zwischen Schülern und Studenten. Geneviève
            Bonnard und Denis Wœffray erkannten die hohe Gewichtung des Synergismus seitens
            des Schulträgers und nahmen sich versiert einer architektonischen sowie städtebauli-
            chen Übersetzung an. Nach der gehaltvollen Aufwertung der Bahnhofssüdseite – mit Fuß-
            gängerüberweg,  zweistöckigem Parkhaus und separatem Busbahnhof – ist den Architek-
            ten mit dem prominenten siebenstöckigen Schulbau der krönende Abschluss ihres Groß-
            projektes „Complexe de la Gare Sud“ gelungen. Diverse Farbkompositionen ergeben sich
            aus der getönten Glasfassade und den schräggestellten, ihr Umfeld reflektierenden Loch-
            blechbrüstungen. Auch im Gebäudeinneren ist dieses Farbspiel erlebbar, denn die um
            das große Atrium ringförmig angeordneten Hörsäle sind vollkommen transparent. Getreu
            dem Motto „Sehen und gesehen werden“. Anziehend sinnliches Rot, weites erfrischendes
            Blau, ...  im Kräftefeld der Farben. Und doch dominieren ganz klar die puristischen Trep-
            pen den zentralen Raum. Paarweise erstreckt sich der Aufgang vom Erdgeschoss bis in
            die oberste Galerieebene, seine wilde Anordnung bricht mit der konventionellen Grund-
            risstypologie. Erschließung, Aufenthaltsort, Treffpunkt – Defätismus beim Treppensteigen
            gehört hier der Vergangenheit an. Der Weg ist das Ziel. Die abstrakt anmutende glatte
            Materialoberfläche rückt die Interaktion zwischen Raum und Mensch in den Vordergrund.

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