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REDINGS ESSAY



                                                         I x P = Q









                                                               Ein Essay von Benjamin Reding





               E  rinnern Sie sich noch? Das Lyrik-Bewertungssystem von Dr. J. Evans Pritchard? Sein  neuen Drehbuch stockte. Eine Schul-Szene, Deutschunterricht, Oberstufe, SEK II oder
                  500-Seiten-Werk „Understanding Poetry“, das die Qualität eines Gedichts an den
                                                                             Q2 oder wie ... wie ... heißt das heute? Ich kenne Schule nicht mehr, viel zu lange her.
               beiden Punkten „Perfection“ und „Importance“ festmacht, frei nach der Formel I x P =  Sicher ist längst alles anders, kein Schielen auf Noten, kein stupides Auswendiglernen,
               Q (Importance x Perfection = Quality)? Und erinnern Sie sich noch, wie der neue Lehrer,  kein panisches Abschreiben, keine Spickzettel unterm Schulklo, kein Ducken, Lügen
               Mr. Keating, die Klasse betritt und sagt: „Wir sind keine Klempner, wir haben es hier mit  und Zittern mehr, sondern Befähigung statt Bestrafung, Verstehen statt Nachplappern,
               Lyrik zu tun. Man kann Gedichte nicht bemessen wie amerikanische Charts“, und von  Erkenntnis statt Noten, Mut statt Angst. So ist es, oder? Ich trat hinaus, hoffte, neue Ge-
               den Schülern, die die Formel brav mitschreiben, plötzlich fordert: „Reißt die Seite her-  danken kommen beim Gehen, die warme Frühlingsluft roch nach Natur. Ich wanderte,
               aus!“ Sicher erinnern Sie sich, es ist die zentrale Szene in Peter Weirs Kultfilm „Der Club  die Gründerzeit-Häuserzeilen, gleich um gleich, wanderten mit. Dann roch es nach fri-
               der toten Dichter“. Und erinnern Sie sich noch daran: die Rütli-Schule? Vor zehn Jahren?  schem Beton. Und ich blieb stehen. Erst hielt ich das Gebäude für einen Umbau, eine
               Diese Schule im Berliner Problembezirk Neukölln, die so harmlos nach Alpenglühen  energetisch ertüchtigte Flachdach-Typenkiste, wie sie sich 100-fach in jedem Gewerbe-
               klang und die so freundlich-behäbig in einem jugendstiligen Reformbau aus dem Jahr  gebiet findet. Aber ein haushohes Bauschild behauptete etwas anderes: „Neubau Cam-
               1908 residierte? Diese Schule, die die Lehrer aber nur noch unter Polizeischutz betraten,  pus Rütli R2, gefördert mit den Mitteln der Europäischen Union.“ Und nun sah ich es,
               in der die Schüler bewaffnet herumliefen, die Rektorin Drohbriefe erhielt und dann erst  um den behäbigen Altbau der Rütli-Schule herum waren Neubauten entstanden, ein
               sie, dann ihre Nachfolgerin und dann ihr Nachfolger nach nur wenigen Jahren aufga-  Werktrakt-Pavillon, ein Mensa-Pavillon, ein Stadtteilzentrum und ein L-förmiger, vierge-
               ben? Erinnern Sie sich? „Horror-Schu le“, „Mes-                                         schossiger Anbau an der Brandwand der alten
               ser-Schu le“, „Ghet to-Schule“, die Über schriften                                      Rütli-Schule, eine strenge Lochfassade mit gol-
               wurden größer und größer. Und als selbst die                                            den schimmernden Metallfenstern. Puristen hät-
               „New York Times“ und die „Washington Post“                                              ten sich gefreut und die Dämmverbundsystem-
               etwas  über  „hate  and  violence  at  the  rutli-                                      fassade „reduziert“, „minimalis tisch“ oder „as-
               school“ berichteten, musste etwas geschehen.                                            ketisch“ genannt. Die Baustelle lag verlassen,
               Ein Wettbewerb wurde  ausgeschrieben, von                                               die improvisierte Blechtür des Neubaus stand
               der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung                                               weit auf, ich ging hinein. Die Sonne blendete,
               und Wohnen. Ein Anbau an das alte Schulge-                                              aus dem Dämmerlicht tauchte ein Betontrep-
               bäude sollte her, ein Stadtteilzentrum, Werk-                                           penhaus auf, wie ich es aus der eigenen Schul-
               räume, Mensa. Bibliothek; die Architektur sol l-                                        zeit kannte (nur nicht mehr schalungsrau, son-
               te schaffen, was unsere Gesellschaft nicht ver-                                         dern glatt gegossen), dann ein fensterloser Mit-
               mag, sollte Gewalt befrieden, Bildungschancen                                           telgang von dem, links und rechts, rechteckige,
               öffnen, Gemeinschaftssinn etablieren, religiöse                                         einseitig belichtete und den Sonnenstand igno-
               Konflikte entschärfen, die Migrationsprobleme                                            rierende Klassenräume abgingen. Auch der
               lindern, die Kluft zwischen Arm und Reich ver-                                          Grundriss kam mir bekannt vor, aber nicht von
               kleinern, die Toleranz befördern, Frauenrechte                                          meiner Schule, sondern aus historischen Archi-
               stärken,  Inklusion  ermöglichen  und  die  frei-                                       tekturlexika. Schulen um 1870 sahen so aus, nur
               heitlich-demokratische Grundordnung verteidi-                                           dass die Außenwände damals mit glasierten
               gen und natürlich auch  wirtschaftlich sein,                                            Backsteinen verziert waren, die Fenster auf Go -
               technisch,  logistisch,  edukativ  einwandfrei  Foto: Benjamin Reding                   tik machten und Steckkontakte für Smartboards
               funktionieren und allen DIN- und Euro-Normen                                            noch fehlten. Zum Abend hin kehrte ich an den
               entsprechen. Ein aufstrebendes, vielfach aus-                                           Schreibtisch zurück. Meine Schulszene wollte
               gezeichnetes Büro aus Leipzig gewann, das Preisgericht befand, der Entwurf sei “Wirt-  nicht besser werden. Schlecht schlief ich, wälzte mich hin und her und fasste im Mor-
               schaftlich, mit dennoch räumlicher Qualität“ und attestierte dem Zusammenbinden  gengrauen einen Plan. Ich fuhr ins Ruhrgebiet, besuchte ein Gymnasium und nahm am
               von Alt- und Neubau „eine ganz unaufgeregt räumliche Einheit“. Nur am Äußeren, da  Unterricht teil. Deutsch-Leistungskurs, Doppelstunde, Thema „Faust“, Studierzimmer-
               übte die Jury dezente Kritik. „Die Fassade mit ihrem pragmatischen Duktus, die Innen-  Szene. Ich spitzte die Ohren, ich war gespannt. Jetzt würden die modernen Schüler los-
               räume einfach abzubilden, führt im Zusammenhang mit dem gewählten Wärmedämm-  legen, fordern, fragen, diskutieren, angstlos und frei ergründen, „was die Welt im Inner-
               verbundsystem zu einem Ausdruck, der Gefahr läuft, banal zu wirken.“ Dann kam der  sten zusammen hält“. Ein Moment der Stille, dann flackerte auf dem Smartboard, das
               Bürgermeister, erster Spatenstich, Blitzlichter, Händeschütteln, dann begannen die Bau-  „D.A.S. (Drama-Analyse-Schema) für LK-Q2“ auf: Acht Punkte, von der Inhaltsangabe
               arbeiten, eine Kleingartenanlage, 7.700 Quadratmeter Grün im grauen Neukölln, wur-  bis zum Aufzählen der sprachlichen Mittel und ihrer Perfektion (Sie erinnern sich: „Per-
               den dafür abgeräumt. Dann verzögerten sich die Bauarbeiten, wie es bei öffentlichen  fection“), von der Dialogstruktur bis zur Einordnung der Wichtigkeit (Sie erinnern sich:
               Bauten so üblich ist, und die „violence at the rutli-school“ verschwand aus den Presse-  „Importance“). I x P = Q. Eifrig schrieben die Schüler mit, Fragen gab es keine. „Bis zur
               berichten, Talkshows und Internetblogs. Und auch ich hatte die Rütli-Schule und ihre  Klausur muss ich’s drin haben“, flüsterte eine Schülerin neben mir. Dr. J. Evans Prit-
               Bauten, Schüler und Probleme vergessen. Draußen, vor meinem Bürofenster blühten  chard hätte jubiliert. Man kann den Rütli-Architekten keinen Vorwurf machen. Solange
               die Bäume, schien die Sonne, wehte ein lauer Wind. Warm wurde es, das erste Mal in  sich der Unterricht nicht ändert, werden die Schulen so aussehen, wie sie aussehen. Ich
               diesem Jahr. Aber ich saß griesgrämig an meinem Schreibtisch. Die Arbeit an meinem  finde, wir sollten es Lehrer Keating gleichtun und rufen: Reißt die Seite heraus!


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