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REDINGS ESSAY

                   VON EIERKÖPPEN, STEH-




               LAMPEN UND FUSSBÄLLEN





                                                            Ein Essay von Dominik Reding





          S  askia packte die Deutschklausur eilig weg. Sie hatte eine Eins geschrieben. 13 Punkte.   der Freak.“.Und ich zeichnete. Oft bis weit nach Mitternacht, nach Mathe und Latein, weiter
             Niemand sollte es sehen, niemand bemerken, niemand kommentieren. „Uh, nicht
                                                                         am Schreibtisch, stundenlang: Design- und Architekturentwürfe. Von Stadthallen und Hoch-
          schon wieder…“, stöhnte sie. „Dominik, Du kannst ja wirklich gar nix!“ Mein Sportlehrer  häusern bis zu Klappstühlen und Stehlampen. Unbemerkt von den Eltern, sorgfältig verbor-
          sagte es, ein untersetzter Herr mit Oberlippenbart. Er sagte es laut genug, dass alle im Sport-  gen vor den Mitschülern. Nur einmal misslang das Versteckspiel. Ein Mitschüler sah mir
          kurs es hören konnten. Ein paar grinsten. Nicht alle. Er sagte es nicht einmal amüsiert, er   beim Kritzeln der Architekturfantasien in einer Schulpause zu. Auch noch einer von den
          sagte es verärgert, wie ein Arzt, der seinem unheilbaren Patienten erklären muss, dass er  Athleten-Assen: Finn. Sein schweres Sportleratmen verriet ihn. Eilig klappte ich das Heft zu.
          unheilbar bleibt. Wieder war ich als Letzter durchs Ziel gelaufen. Beim 200- und beim   Finn konnte nichts. Kein Mathe, kein Deutsch, kein Englisch, kein Bio, keine Chemie. Er
          1000-Meter-Lauf. Lustlos stopfte er die Stoppuhr zurück in seine Jogginghose, pfiff auf der  machte keine Hausaufgaben, übte für keine Klausur, beteiligte sich nicht am Unterricht,
          Trillerpfeife. „Für heute ist Schluss“, die Sportstunde war beendet. Vincent stand vor der   stellte keine Fragen und gab keine Antworten. „Keine Zeit“, grummelte er dann. „Ich muss
          Tafel,  Lehrer Dr. Meenken schrieb mit flinken, fast tänzelnden Bewegungen eine Gleichung   zum Training.“ Dahin musste er ziemlich oft. Eigentlich jeden Tag. Er spielte Fußball. DAS
          auf das dunkle Rechteck: y‘‘+2y‘+3y=4x²+5x+6. Die Kreide quietschte, „Sie sehen, eine   konnte er! „VFL Sölde“. Position „Rechtsaußen“. Verbandsliga! Kreismeister! “Ein großes
          schlichte Differenzialgleichung.“ Herr Meenken lächelte, überreichte Vincent mit großer   Talent!”, so titelte die Lokalzeitung im Sportteil. Das Lehrerkollegium ließ darob Gnade
          Geste das Kreidestück. „Die lösen Sie jetzt und erläutern Ihren Mitschülern, wie Sie es  walten. Ganz knapp, aber regelmäßig wurde er versetzt. In den Pausen stand er allein. Die
          machen!“ Vincent räusperte sich, wiederholte leise: „Differenzialgleichung …“ – dann sagte   Jungs fürchteten seine sportliche Überbegabung, seine Konkurrenz, und für die Mädchen
          er nichts mehr, starrte auf die Tafel, in den Klassenraum. Jemand rief ihm halblaut zu „Qua-  war er zu einfach ... zu dumm, um es ehrlich auszusprechen. Allein lehnte er gegen die
          dratische Parabel!“ „Ruhe! Keiner hilft!“ Dr. Meenken blickte streng, „Das müssen Sie ...“, er   GFK-verstärkten Wände des Oberstufentraktes und starrte ist Leere, fuhr sich, geistesabwe-
          wandte sich mit süffisantem Lächeln Vincent zu, „ ... in der Klausur ja auch alleine können!“   send, durch seine wuscheligen Haare, stieß sich mit den Händen wieder und wieder von der
          Dann betrachtete er Vincent, wie ein Wissenschaftler einen Probanden bei einem höchst-  Wand ab, schien die Minuten bis zum Gong innerlich wegschneiden, motorisch verkürzen
          wahrscheinlich letal verlaufenden Unterkühlungsexperiment. Vincent schwieg, Herr Meen-  zu wollen. Als wüsste er mit der freien Zeit, so ganz ohne Fußball, Tor und Trikot, nichts
          ken schwieg, der Mathekurs schwieg. Vincent starrte auf die Tafel, die         anzufangen. In der Festlegung der Rangfolgen bildeten wir die Ext-
          Kreide zerbröselte in seiner Hand. Dann begann er zu weinen. Er                reme. Er, der zu gute Sportler, ich der zu schlechte. So bleiben wir
          schwieg und weinte. „Setzen Sie sich!“, fauchte Herr Meenken und               beide in den Pausen allein. Einmal sprach ich in an. „Du bist Kreis-
          forderte eilig den Kursbesten zur Lösung der Gleichung auf. Er schaff-         meister geworden!” Er nickte, kein Satz folgte. Dann, nach langem,
          te es problemlos. Herr Meenken atmete aus: „Sehen Sie, das kann                stillen Anlauf: „Ja, war ein hartes Spiel. Nur mit einem Steilpass
          doch jeder!“  Wir, Vincent, Saskia und ich und noch ein paar Unglück-          hat’s für mich hingehauen.” Dann wieder Schweigen, er schaute
          ein Geheimnis, über das wir uns nie ausgetauscht hatten, aber von  Grafik (Skizze von 1987): Benjamin Reding  er, dass ich ein guter, vielleicht zu guter Schüler und schlechter, zu
          liche mehr, wir teilten ein Geheimnis: Wir waren keine Hochbegab-
                                                                                         ernst, seine Blick auf den grauen Filzboden gerichtet. Sicher wusste
          ten. Wir mussten lernen, viel lernen, uns anstrengen, sehr anstren-
                                                                                         schlechter Sportler war. Vielleicht war ich ihm deshalb nicht geheu-
          gen. Wir verbrachten unsere Nachmittage mit Denkarbeit am Schreib-
          tisch. Erledigten gewissenhaft unsere Hausaufgaben, paukten gründ-
                                                                                         er, nicht „bedeutend“ genug für einen Pausenplausch? Das Schwei-
          lich für die Klausuren, deklinierten und konjugierten ausgiebig in
                                                                                         gen dehnte sich aus, wurde selbst eine Nachricht. Hastig überlegte
          Französisch, Englisch und Latein. Noch ein Geheimnis verband uns,
                                                                                         ich: Was könnte ich ihm erzählen? Von den Stadthallen, Stühlen
                                                                                         und Stehlampen, die ich nachts zeichnete? Über Mies van der
          dem wir doch gemeinsam wussten: Wir alle waren in Sport mittelmäßig bis schlecht. Brach-  Rohe, den ich bewunderte? Oder dass ich noch absolut nie ein Tor geschossen hatte? „Gehst
          te einem das Erstere lediglich Schimpf und Schande ein, von missgönnendem Neid bis zu   Du zu der Abi-Party ins Goethe-Gymnasium?“„Warum?“, „Das sind immer ganz dolle Fei-
          eilig und halblaut gezischten Kommentaren, wie Eierkopp, Klugscheißer, Streber, so war das   ern!“ Ich tat wissend, war aber selbst noch nie dabei gewesen. Er überlegte, seine Stirn in
          Letztere eine echte Katastrophe. Geistige Arbeit! Nur körperliche Potenz vermochte ein Stre-  Falten. „Mal schauen, wenn ich nicht zum Training muss, dann vielleicht.“ Die Abi-Party im
          ber-Schreibtisch-Image zu kompensieren. Die Sportlichen wurden nie „Streber” genannt,   Goethe war mau, aber einige Mitschüler waren gekommen, in der Aula wurde getanzt. „Mit
          ganz gleich, wie viel Zeit sie in ihre Zeugnisnoten investierten. Die Schönen auch nicht.  der Schule höre ich nach den Sommerferien auf.” Plötzlich stand Finn neben mir, mit nassen
          Natürlich gab es Gegenstrategien: „Ich melde mich zu oft. Immer zu gute mündliche Noten.   Haaren, seinen Trainingsrucksack noch geschultert. Ich nickte, war über die Nachricht nicht
          Im nächsten Halbjahr bleibe ich stumm“, flüsterte mir Saskia zu. Die Klugheit so weit als  überrascht. „Ab jetzt Regionalliga?“ Ich tat informiert. „Nee, nach dem Fach-Abi geh ich nach
          möglich verbergen, das war ein Weg. Der schmächtige Vincent besuchte plötzlich und heim-  Holzminden, Fachhochschule für angewandte Wissenschaft und Gestaltung.“ „Uh …“, sagte
          lich ein Gym, um im anderen Gym(nasium) nicht mehr verhöhnt zu werden, und ich unter-  ich. Fachhochschule für angewandte Wissenschaft? Das klang nach Schreibtischarbeit, nach
          nahm stundenlange Waldläufe, um verdammt nochmal nicht wieder als Letzter durchs Ziel   Eierkopf, Sesselpuper, Stubenhocker! Es klang sooo uncool. Ich war enttäuscht. Das Reden
          zu hecheln. Nur nicht als Kopfmensch, als Neunmalkluger gelten, und es mit Einsamkeit  meiner Mitschüler hatte ich längst verinnerlicht und es nicht mal gemerkt. „Und Deine
          bezahlen. Denn ein drittes Geheimnis verband uns, ein unaussprechliches, abwegiges: Wir   Karriere, Dein Fußball?“ „Vorbei.“ Er verschränkte die Arme vor seinem durchgeschwitzten
          liebten die Kunst. Während die anderen die Reste ihrer freien Zeit in der Handball-AG, im   T-Shirt wie ein Schutzwall und fixierte mich: „Hochschule für Gestaltung, das meint Design.
          Schwimmverein und auf  Tennisturnieren verbrachten, frönten wir – heimlich, abgeschieden,   Das will ich können: zeichnen und entwerfen!“ Er sagte es sehr ernsthaft, die Stirn in Falten
          versteckt – unseren wahren Leidenschaften: Saskia schrieb politische Texte, die stets die  und dann: „Es können, richtig gut können ... So wie Du!“ Er wischte sich erschöpft durch
          Menschheit grundsätzlich besser machen sollten, Vincent besuchte regelmäßig das heimi-  sein nasses Gesicht. Dann lächelte er, zögerlich, fast schüchtern. Finn bleib noch etwa eine
          sche Theater und schrieb darüber Kritiken, die er uns „Eingeweihten“ ab und an zu lesen   Stunde, trank Bier, tanzte nicht und stand, wie in den Schulpausen, allein. Dann schulterte
          gab, aber niemals in der Schülerzeitung veröffentlichte. „Dann wäre ich ja bei allen komplett   er energisch seinen Rucksack und ging, ohne sich umzudrehen.

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