Page 38 - AIT0423_E-Paper
P. 38
SERIEN PERSPEKTIVWECHSEL • CHANGE OF PERSPECTIVE
mehr bauliche Sicherheit sorgen, sammeln Sie unweigerlich Erkenntnisse, die es zu tei-
len gilt – das allerdings nicht immer in der Öffentlichkeit. Sie werden in dem Buch keine
Grundrisse und auch keine Details von Sicherheitselementen finden. Das ist tabu. Aber
ein Botschaftsbau ist immer auch eine Botschaft des jeweiligen Landes. Die Diplomaten
dazu zu bewegen, in ihrer täglichen Arbeit auch über Architektur zu sprechen, ist uns
immer ein Anliegen. Teilweise gelingt uns das.
r Ihre Manuals bündeln praktisches Know-how, teils zu sehr gängigen Bauaufgaben
wie Arztpraxen, teils zu sehr exotischen Themen wie Aquarien oder Zoos. Sie, Frau
Dr. Meuser, haben 2020 das Institut für Zooarchitektur an der Hochschule Anhalt ge-
gründet. Wie spannend ist es, so ein Nischenthema aufzugreifen?
NM: Unsere Handbücher haben einen ähnlichen Anspruch wie unsere Architekturführer:
Wir wollen dem planenden und entwerfenden Architekten Grundlagen vermitteln und
ihn gegenüber seinen Auftraggebern sprachfähig machen. Er soll das Thema durchdrin-
gen können. Das gilt umso mehr für ein Aufgabenfeld wie das Bauen für Tiere. Zoos und
Aquarien erkennen zunehmend, dass die Qualität der Architektur auch zu einem Image-
gewinn beiträgt. Gut gestaltete Zoo- oder Aquarienbauten tragen wesentlich zum Bil-
dungsauftrag dieser Einrichtungen bei. Nach mehr als 100 Jahren Erfahrung mit moder-
nen Zoologischen Gärten stellt sich die Frage: Was wird eigentlich für wen gebaut? Um
„Architektur und Diplomatie“ spiegelt die (Bau-)Geschichte der deutschen Diplomatie von 1870 bis 2020. den Aufgaben der Zoologischen Gärten gerecht zu werden, ist es notwendig, neben Wis-
sensvermittlung, Unterhaltung, Arterhaltung und Forschung auch die Baukultur als eine
wesentliche Aufgabe zu etablieren. Das Institut für Zooarchitektur setzt sich für eine Aka-
demisierung dieser Bautypologie ein, versucht aber auch, den Zoodirektoren die Augen
„Ein Botschaftsbau ist immer auch für gute Architektur zu öffnen. Man muss nur am Thema dranbleiben und in der Vermitt-
eine Botschaft des jeweiligen Landes.“ lung der Werte überzeugend sein. Erste Erfolge zeichnen sich bereits ab und sind für
mich Ansporn zur Fortsetzung meiner Mission.
Dr. Philipp Meuser
r Frau Dr. Meuser, Sie haben in Rosenheim Innenarchitektur studiert, in Chicago am
IIT Ihren Master of Architecture abgelegt und waren von 2016 bis Ende März dieses
Jahres Professorin für Innenraumplanung an der Hochschule Anhalt in Dessau. In die-
sem Monat erscheint Ihr neues Buch „Geschichte und Theorie der Innenarchitektur
– von der Moderne bis heute“. Was dürfen wir auf mehr als 400 Seiten erwarten?
NM: Dieser Titel schließt eine Lücke in der Innenarchitektur. Geschichte und Theorie sind
die Grundlagen jeder Disziplin. Und in meinem Buch möchte ich mit den Klischees der
Innenarchitektur aufräumen. Bei meinen Recherchen war ich selbst überrascht, wie viele
Architekten ihre Karriere in der Innenarchitektur begonnen haben. Weltberühmte Archi-
tekten der jüngeren Zeit wie David Chipperfield, Hans Hollein oder Peter Zumthor haben
ihre Karriere mit Innenarchitektur-Aufträgen begonnen. Wichtig war mir auch, die Innen-
architektinnen zu benennen, die in der Baugeschichtsschreibung marginalisiert oder
schlicht vergessen wurden. Drei außergewöhnliche Frauen – Elsie de Wolfe (1865–1950),
Dorothy Draper (1889–1969) oder Eleanor Mc Millen Brown (1890–1990) – haben Pionier-
arbeit auf diesem Gebiet geleistet. Ich bin überzeugt, dass die Leserinnen und Leser des
Buches eine gute Grundlage erhalten, um selbst über Innenarchitektur nachzudenken.
Es soll Appetit auf mehr machen. Ich kann versprechen, dass die Texte überraschend un-
terhaltsam und auch für Laien verständlich sind. Ergänzt haben wir die Theorie mit ganz
Deutsche Botschaft im Bamako, Mali, erbaut 2021 von Meuser Architekten aus Berlin wunderbaren Zeichnungen, die 100 Jahre Baugeschichte stimmig dokumentieren und zei-
gen, wie zufällig manche Ideen zu Moden werden.
Dr. Philipp Meuser beim Meeting in Bamako/Mali mit den lokalen Architekten und Ingenieuren
r Herr Dr. Meuser, Sie haben an der TU Berlin zur Typologie des sowjetischen Woh-
nungsbaus promoviert. 2017 haben Sie das Bundesverdienstkreuz am Bande für den
baukulturellen Austausch mit Osteuropa erhalten, seit 2018 sind sie Ehrenprofessor
an der O.M. Beketow-Universität in Charkiw. Ist es Ihnen derzeit möglich, Kontakt
zur Universität in der Ukraine zu halten?
PM: Der Unterricht findet nur noch online statt. Ich bin im vergangenen November in
Charkiw gewesen und habe mich mit KollegInnen in unbeheizten Räumen getroffen,
deren Fenster mit Holzplatten zugenagelt sind. Fast alle Glasscheiben des Gebäudes sind
nach zwei Raketentreffern zerstört. Viele Studenten kämpfen an der Front. Wenn Sie sich
vor Ort einen solchen Eindruck verschaffen, an der Trauerfeier für einen gefallenen Stu-
denten teilnehmen, kommt der Krieg plötzlich ganz nah. Das können die Bilder in den
deutschen Medien kaum vermitteln. Wir engagieren uns mit unserem Architekturbüro
Foto: Jennifer Tobolla und unserem Verlag sehr intensiv in der Ukraine. Wir haben dazu das Programm „Ge-
schichten der ukrainischen Architektur“ ins Leben gerufen, mit dem wir allein in diesem
Jahr etwa zehn neue Titel verlegen werden.
038 • AIT 4.2023