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REDINGS ESSAY




                                                 DER TISCH







                                                             Ein Essay von Dominik Reding





            S   elten wird ein Möbelstück berühmt, schafft es sogar in die Abendnachrichten, in  nur durch ein darunter installiertes Gebläse in dieser fotogenen, permanenten Waage-
                                                                          rechten gehalten würde. Wir standen wieder auf dem Kopfsteinpflaster des Roten Plat-
                die Tagespresse und die Foren und feinsten Verästelungen des Internets. Aber die-
            ser Tisch, cremeweiß, irgendwie klassizistisch, eigen proportioniert, blitzsauber, auf  zes, durchgefroren und hungrig nach fünf Stunden im kaum beheizten, Imbiss- und Re-
            Hochglanz poliert, der schaffte es. Hell ausgeleuchtet war das Objekt, zentral in einen  staurant-freien Kreml, da rauschte Richtung Regierungs-Kremltor eine dieser übergro-
            ebenso „klassizistischen“ Saal gestellt, prominent, wie auf eine Bühne. Es sei ein Ein-  ßen, überbreiten Staatslimousinen vorbei, ein SIL, neueste Baureihe. Und, nicht weil
            zelstück, hieß es später in der Presse, speziell für jenen Raum entworfen. Ob in Italien  wir es erkannten, sondern weil wir es uns wünschten, vermeinten wir hinter den Pan-
            oder Spanien, ob im Jahr 1996 oder 2005, darüber war sich die Presse – die Informa-  zerglasscheiben die Umrisse des Generalsekretärs des Zentralkomitees der Kommuni-
            tionen waren gewiss streng geheim – nicht recht einig. Die Tischplatte, verziert mit dün-  stischen Partei der Sowjetunion zu sehen: Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Plötz-
            nen Blumenranken, ruhte auf schweren Säulen, drei großen, umstellt von je acht klei-  lich lächelten und winkten wir, überschwänglich, ausgelassen wie Kinder, trotz der
            nen. Ein Tisch mit 27 Säulen. Nur über die Länge des Tisches herrschte Einigkeit: Sechs  strengen Blicke der Wachen. Und, so schien es uns, der Mann im SIL winkte zurück.
            Meter. Moskau, im Winter, vor vielen Jahren. Ein Urlaub in Russland. Mit Kreml-Be-  Ich las, die sechs Meter Tischlänge seien notwendig gewesen, lebensnotwendig sogar.
            such. Die schwermütige Weite des Roten Platzes, die schweigend Kälte und frierend  Aus Sicherheit vor Corona. Ich dachte, ob es dann nicht auch die 150 Zentimeter getan
            Zeit erduldende, endlose Schlange vor                                                          hätten, die an jeder Bushaltestelle als
            dem Lenin-Mausoleum, der Garten an                                                             Mindestabstand gefordert werden,
            der Kremlmauer, mit seinen Gräbern –                                                           oder – wenn man eben ganz sicher
            auf dem Juri Gagarins lagen Dutzende                                                           gehen will – vielleicht drei oder vier
            Rosen –, der wächserne, Anzug tra-                                                             Meter oder eine Plexiglasscheibe zwi-
            gende Lenin in seinem Sarg aus Glas,                                                           schen Gastgeber und Gast. Auch über-
            das Grabmal des unbekannten Solda                                                              legte ich, wie man wohl das winzige
            ten, vor dessen flammenschlagendem                                                              Blumengesteck auf das Zentrum des
            Stern alte, vom Kummer gebeugte                                                                Tisches dirigiert hatte und dachte an
            Frauen ihre Blumen niederlegen. Und                                                            Jeton-Rechen beim Roulette. Ja, dieser
            dann, schon in der Dämmerung, der                                                              Tisch erinnerte an etwas. Nein, nicht
            Eintritt in den für gewöhnliche Men-                                                           an die zu nahe liegende und unge-
            schen, auch uns Touristen, zugängliche                                                         rechte  Assoziation  des  „Führer-
            Teil des Kreml. Durch ein banales                                                              Schreibtisches“, nein, nicht an die
            Stahltor in den von den roten Mauern                                                           Zimmereinrichtung eines Trump-Ho-
            dick ummantelten Kern. Das Bild der                                                            tels in Las Vegas, nein, auch nicht an
            Matrjoschka, der Puppe in der Puppe,                                                           die Deko einer Pizzeria in – vielleicht –
            für Russland oft zitiert, hier traf es zu.                                                     Gelsenkirchen. Nein, der Tisch erin-
            Warum zieht es die Mächtigen in Fra-                                                           nerte mich an einen Film! Hollywood,
            gen der Gestaltung wieder und wieder                                                           1940er-Jahre. Das Set-Design (Arbeits-
            zum Klassizismus? Weil sich Herrschaft                                                         zimmer eines Staatsmannes): Brokat-
            bescheiden in „edler Einfalt und stiller                                                       vorhänge, grob gemustertes Parkett,
            Größe“ zeigen soll? Weil die Demokra-                                                          übergroße Pilaster, übergroße Türen,
            tie im Griechenland des Perikles Ge-                                                           übergroße Fenster, übergroße Möbel
            stalt und Namen bekam? Oder doch, Foto: Benjamin Reding                                        und ein übergroßer Globus. Natürlich,
            weil ihre Travestie, die Tyrannis, die                                                         alles irgendwie klassizistisch. Design
            Diktatur im antiken Rom, in den säu-                                                           für einen „Übermenschen“, der zu tan-
            lenumstandenen Palästen der Cäsaren ihr adäquates Abbild findet? Scharf wehte der  zen beginnt, selbstverliebt, der die Weltkugel springen, hüpfen, fliegen lässt, bis sie
            Ostwind zwischen den historischen und historistischen Kreml-Fassaden, trieb uns und  unter seinem Liebkosungsdruck, PENG!, zerplatzt. Ja, der Tisch erinnert an Charlie
            den Schnee in das Gewirr der kleinen Plätze und winkeligen, von Wachen gesäumten  Chaplins Meisterwerk „The Great Dictator“. Als ich diese Kolumne begann, war noch
            Wegen zu ihren Füßen. Irgendwo hier, hinter den Zäunen, Wachbuden und lustlos ge-  Frieden. Wenn diese Kolumne erscheint, herrscht schon Krieg. In Kiew, Charkiw, der
            ziegelten Sicherheitsmauern, im abgetrennten, wirklich geheimen Bereich des Kreml,  Ukraine, vielleicht schon in Belarus, vielleicht schon in anderen Teilen Europas. Ge-
            saß damals ein Herr Gorbatschow und machte von Schreibtischen aus, die man im  stern betrat ich ein Bauwerk, das wohl niemals im Fernsehen gezeigt werden, über
            Fernsehen selten sah (Büromöbel langweiligster, realsozialistischer Art, Stahl und  dessen Einrichtung es keine Memes im Netz geben wird. Dabei ist sein Stilmischmasch
            Pressspan, fern jeder „Klassik“), Weltpolitik. Man darf sagen, er machte Frieden. Wo  aus parabolischem Rabitzputzgewölbe und schriller Neugotik, aus bläulichem Fenster-
            sich diese Arbeitszimmer genau befanden, war unklar. Wir touristischen Besucher,  glaslicht und güldenem Mosaiksteinchen-Sternenhimmel durchaus abenteuerlich. Es
            auch die Russen, vermuteten sie direkt unter der stets munter flatternden Sowjetflagge  ist eine Kirche in Berlin-Neukölln. Vor einem hölzernen Heiligen, dessen Namen ich
            auf dem Dach des Kreml-Palastes, die, so tuschelte es uns eine Übersetzerin leise zu,  nicht kannte, entzündete ich eine Kerze. Ich weiß nicht, ob es hilft. Aber ich hoffe es.


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