Page 50 - AIT0422_E-Paper
P. 50
REDINGS ESSAY
DER TISCH
Ein Essay von Dominik Reding
S elten wird ein Möbelstück berühmt, schafft es sogar in die Abendnachrichten, in nur durch ein darunter installiertes Gebläse in dieser fotogenen, permanenten Waage-
rechten gehalten würde. Wir standen wieder auf dem Kopfsteinpflaster des Roten Plat-
die Tagespresse und die Foren und feinsten Verästelungen des Internets. Aber die-
ser Tisch, cremeweiß, irgendwie klassizistisch, eigen proportioniert, blitzsauber, auf zes, durchgefroren und hungrig nach fünf Stunden im kaum beheizten, Imbiss- und Re-
Hochglanz poliert, der schaffte es. Hell ausgeleuchtet war das Objekt, zentral in einen staurant-freien Kreml, da rauschte Richtung Regierungs-Kremltor eine dieser übergro-
ebenso „klassizistischen“ Saal gestellt, prominent, wie auf eine Bühne. Es sei ein Ein- ßen, überbreiten Staatslimousinen vorbei, ein SIL, neueste Baureihe. Und, nicht weil
zelstück, hieß es später in der Presse, speziell für jenen Raum entworfen. Ob in Italien wir es erkannten, sondern weil wir es uns wünschten, vermeinten wir hinter den Pan-
oder Spanien, ob im Jahr 1996 oder 2005, darüber war sich die Presse – die Informa- zerglasscheiben die Umrisse des Generalsekretärs des Zentralkomitees der Kommuni-
tionen waren gewiss streng geheim – nicht recht einig. Die Tischplatte, verziert mit dün- stischen Partei der Sowjetunion zu sehen: Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Plötz-
nen Blumenranken, ruhte auf schweren Säulen, drei großen, umstellt von je acht klei- lich lächelten und winkten wir, überschwänglich, ausgelassen wie Kinder, trotz der
nen. Ein Tisch mit 27 Säulen. Nur über die Länge des Tisches herrschte Einigkeit: Sechs strengen Blicke der Wachen. Und, so schien es uns, der Mann im SIL winkte zurück.
Meter. Moskau, im Winter, vor vielen Jahren. Ein Urlaub in Russland. Mit Kreml-Be- Ich las, die sechs Meter Tischlänge seien notwendig gewesen, lebensnotwendig sogar.
such. Die schwermütige Weite des Roten Platzes, die schweigend Kälte und frierend Aus Sicherheit vor Corona. Ich dachte, ob es dann nicht auch die 150 Zentimeter getan
Zeit erduldende, endlose Schlange vor hätten, die an jeder Bushaltestelle als
dem Lenin-Mausoleum, der Garten an Mindestabstand gefordert werden,
der Kremlmauer, mit seinen Gräbern – oder – wenn man eben ganz sicher
auf dem Juri Gagarins lagen Dutzende gehen will – vielleicht drei oder vier
Rosen –, der wächserne, Anzug tra- Meter oder eine Plexiglasscheibe zwi-
gende Lenin in seinem Sarg aus Glas, schen Gastgeber und Gast. Auch über-
das Grabmal des unbekannten Solda legte ich, wie man wohl das winzige
ten, vor dessen flammenschlagendem Blumengesteck auf das Zentrum des
Stern alte, vom Kummer gebeugte Tisches dirigiert hatte und dachte an
Frauen ihre Blumen niederlegen. Und Jeton-Rechen beim Roulette. Ja, dieser
dann, schon in der Dämmerung, der Tisch erinnerte an etwas. Nein, nicht
Eintritt in den für gewöhnliche Men- an die zu nahe liegende und unge-
schen, auch uns Touristen, zugängliche rechte Assoziation des „Führer-
Teil des Kreml. Durch ein banales Schreibtisches“, nein, nicht an die
Stahltor in den von den roten Mauern Zimmereinrichtung eines Trump-Ho-
dick ummantelten Kern. Das Bild der tels in Las Vegas, nein, auch nicht an
Matrjoschka, der Puppe in der Puppe, die Deko einer Pizzeria in – vielleicht –
für Russland oft zitiert, hier traf es zu. Gelsenkirchen. Nein, der Tisch erin-
Warum zieht es die Mächtigen in Fra- nerte mich an einen Film! Hollywood,
gen der Gestaltung wieder und wieder 1940er-Jahre. Das Set-Design (Arbeits-
zum Klassizismus? Weil sich Herrschaft zimmer eines Staatsmannes): Brokat-
bescheiden in „edler Einfalt und stiller vorhänge, grob gemustertes Parkett,
Größe“ zeigen soll? Weil die Demokra- übergroße Pilaster, übergroße Türen,
tie im Griechenland des Perikles Ge- übergroße Fenster, übergroße Möbel
stalt und Namen bekam? Oder doch, Foto: Benjamin Reding und ein übergroßer Globus. Natürlich,
weil ihre Travestie, die Tyrannis, die alles irgendwie klassizistisch. Design
Diktatur im antiken Rom, in den säu- für einen „Übermenschen“, der zu tan-
lenumstandenen Palästen der Cäsaren ihr adäquates Abbild findet? Scharf wehte der zen beginnt, selbstverliebt, der die Weltkugel springen, hüpfen, fliegen lässt, bis sie
Ostwind zwischen den historischen und historistischen Kreml-Fassaden, trieb uns und unter seinem Liebkosungsdruck, PENG!, zerplatzt. Ja, der Tisch erinnert an Charlie
den Schnee in das Gewirr der kleinen Plätze und winkeligen, von Wachen gesäumten Chaplins Meisterwerk „The Great Dictator“. Als ich diese Kolumne begann, war noch
Wegen zu ihren Füßen. Irgendwo hier, hinter den Zäunen, Wachbuden und lustlos ge- Frieden. Wenn diese Kolumne erscheint, herrscht schon Krieg. In Kiew, Charkiw, der
ziegelten Sicherheitsmauern, im abgetrennten, wirklich geheimen Bereich des Kreml, Ukraine, vielleicht schon in Belarus, vielleicht schon in anderen Teilen Europas. Ge-
saß damals ein Herr Gorbatschow und machte von Schreibtischen aus, die man im stern betrat ich ein Bauwerk, das wohl niemals im Fernsehen gezeigt werden, über
Fernsehen selten sah (Büromöbel langweiligster, realsozialistischer Art, Stahl und dessen Einrichtung es keine Memes im Netz geben wird. Dabei ist sein Stilmischmasch
Pressspan, fern jeder „Klassik“), Weltpolitik. Man darf sagen, er machte Frieden. Wo aus parabolischem Rabitzputzgewölbe und schriller Neugotik, aus bläulichem Fenster-
sich diese Arbeitszimmer genau befanden, war unklar. Wir touristischen Besucher, glaslicht und güldenem Mosaiksteinchen-Sternenhimmel durchaus abenteuerlich. Es
auch die Russen, vermuteten sie direkt unter der stets munter flatternden Sowjetflagge ist eine Kirche in Berlin-Neukölln. Vor einem hölzernen Heiligen, dessen Namen ich
auf dem Dach des Kreml-Palastes, die, so tuschelte es uns eine Übersetzerin leise zu, nicht kannte, entzündete ich eine Kerze. Ich weiß nicht, ob es hilft. Aber ich hoffe es.
050 • AIT 4.2022