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WOHNEN • LIVING THEORIE • THEORY
logische Prozesse. Das natürliche Licht von Sonnenauf- und Untergang dient unseren inneren Uhren als
äußerer Taktgeber für die tägliche Anpassung. Als „Indoor Generation“ verbringen wir etwa 90 Prozent
unserer Zeit in geschlossenen Räumen ohne Tageslicht oder frische Luft. Besonders deutlich nehmen
wir die psychischen Auswirkungen von Lichtmangel im Wechsel der Jahreszeiten wahr. Wer viel Zeit im
Freien verbringt, schützt sich am besten vor vielen körperlichen und psychischen Krankheiten. Dabei ist
es wichtig, sowohl alle Wellenlängen des Tageslichts als auch ausreichend Dunkelheit für den Schlaf zu
AIT-ArchitekturSalon Hamburg, Fotos: Ulrike Brandi Zimmer als Rückzugsort für den Übergang zur Nacht zu sehen und gemütliches, gedämpftes und warmes
erhalten. Während wir schlafen, regenerieren sich unsere Zellen, Entgiftungsprozesse finden statt und
unser Gehirn verarbeitet Informationen und speichert Erinnerungen. Daher ist es gesund, abends unsere
Licht, zu verbreiten. Um die hohe Lichtdosis am Morgen zu erreichen, kann das Kunstlicht an trüben Tagen
mit Tageslichtlampen und „Lichtduschen“ gezielt ergänzt werden, medizinische Forschungen zeigen, dass
sie bei Depressionen und Müdigkeit helfen. Wenn wir eine smarte Lichtsteuerung in unserem Zuhau-
berücksichtigt Tageszeiten und entspricht dem Biorhythmus des Menschen, das wirkt sich positiv auf
unser Wohlbefinden aus. Das Kunstlicht orientiert sich an den Eigenschaften und Stimmungen des natür-
Materialität und Lichtstimmung: Karton matt gelb • Lighting mood: matt yellow cardboard se integrieren, können wir diese auch gezielt auf unseren Tagesrhythmus abstimmen. Gesundes Licht
lichen Lichts, die Lichtszenen folgen dem Tagesverlauf. Ein dynamischer Wechsel zwischen verschiedenen
Lichtszenen, vom Morgen über den Tag bis zum Abend und der Nacht, unterstützt die Stabilisierung
unseres zirkadianen Rhythmus. Je nach Tageszeit wirkt das Licht beruhigend oder aktivierend. Für uns
LichtplanerInnen ist das natürliche Licht Ausgangspunkt und Maßstab: Werden diese Erkenntnisse auch
im Städtebau, der Architektur und der Innenarchitektur berücksichtigt, können wir Tageslicht optimal in
Wohnhäuser integrieren und die BewohnerInnen sich schließlich dem Tageslicht zugewandt einrichten.
Zwiegespräch von Materialität und Licht
Ohne Licht existiert kein Raum, ohne Oberflächen ist Licht unsichtbar. Diese gegenseitige Abhängigkeit
erzwingt ein ständiges Zwiegespräch. Licht und Material beeinflussen und formen sich gegenseitig. Um
beide Faktoren gut zu verstehen, betrachten wir als Erstes das Licht. Schon innerhalb der Leuchte intera-
gieren Licht und Oberflächen: Sei es der hochglänzende Reflektor, der die Lichtstrahlen in eine bestimm-
te Richtung lenkt, oder sei es der transparente Lampenschirm, der die Strahlen diffus und großflächig
streut. Dies sind zwei grundsätzlich verschiedene Lichtcharakteristika, die wir aus der Natur kennen,
Folie glänzend goldfarben • Shiny gold foil nämlich Sonnen- und Himmelslicht. Der Reflektor verstärkt das direkte, brillante Licht einer Lichtquelle.
Hinterleuchtete Flächen machen eher schattenloses, gleichmäßiges Licht. Hier kommt der dritte Player
ins Spiel, der Mensch. Technische, physikalische Phänomene treffen auf unsere interpretierende und
erfahrungsgeprägte Wahrnehmung. Angenehm ist die Kombination von beiden Lichtarten, da diffuses
Licht allein auch leblos, matschig und langweilig werden kann, direktes brillantes Licht allein aber zu
dramatisch, blendend und anstrengend werden kann. Zwischen hell und dunkel steht uns in der Natur
die riesige Bandbreite des Tageslichtes mit bis zu 100.000 Lux zur Verfügung. In Wohnräumen leben wir
aber meistens in 50 bis 500 Lux. Zum Glück können wir dimmen oder Lichtquellen unterschiedlich kom-
binieren und ergänzen, denn beispielsweise 200 Lux können an einem grauen Nebeltag sehr wenig sein,
in der dunklen Nacht sehr viel. Unser Helligkeitsempfinden hängt vom Umgebungslicht ab und – wie wir
immer wieder merken, wenn wir zusammen wohnen – von persönlichen Vorlieben und Bedürfnissen.
Seitdem nicht mehr nur Glühlampen und Halogenglühlampen unsere Wohnräume bevölkern, ist der
Aspekt der Farbtemperatur wichtig geworden. Die Farbtemperatur messen wir in Kelvin, je niedriger der
Wert, umso wärmer das Licht: Kerzen strahlen ein Licht von 2200 Kelvin ab, die Glühlampe erzeugt Licht
mit 2700 Kelvin, und LEDs gibt es für den Wohnraum überwiegend mit 2700, 3000 und 4000 Kelvin.
Die Farbtemperatur des weißen Lichts zusammen mit den Gegenstandsfarben ist typisch für Gegenden
Verspiegeltes Glas, 80% Reflexion • Mirrored glass, 80% reflection und Tageszeiten, sie ist im Gedächtnis des Einzelnen verankert, weckt Assoziationen und prägt die
Wahrnehmung der Lichtstimmung. Neben der Farbtemperatur ist unabhängig davon der Farbwiederga-
beindex (Ra oder CRI, „colour rendering index“) ein entscheidendes Qualitätsmerkmal von Leuchtmit-
teln. Er beschreibt, wie natürlich Farben erscheinen. Den Maßstab dafür bilden das Tageslicht und das
Glühlampenlicht mit einem Farbwiedergabeindex Ra 100, LEDs haben häufig nur Ra 80, ich empfehle im
Wohnraum Ra 90 und höher. Bei einem niedrigen Farbwiedergabeindex erscheinen Tomaten gräulich,
Gesichter fahl, und im schlimmsten Fall sind nicht mal die Farben des Kartenspiels zu unterscheiden,
und das macht nicht glücklich! Wie Lichtstimmungen durch verschiedene Lichtquellen in Kombination
mit verschiedenen Materialien, Farben und Glanzgraden, auf die das Licht fällt, entstehen, zeigt sich in
einem Praxisversuch, den wir im AIT-ArchitekturSalon Hamburg durchgeführt haben. Auf den Bildern
erkennt man die Konstanten des Versuchsaufbaus: den weißen Raum und die Lichtquelle mit 2700 Kel-
vin und Ra 98 in immer gleicher Position. Die Materialien lassen sich auswechseln: gelber matter Karton,
die goldfarben glänzende Seite einer Rettungsfolie, Sonnenschutzglas und blauer matter Karton, neben
dem links noch der gelbe liegt. Die Wirkung auf den Raum erkennt man auf allen Flächen, inklusive der
Dachschräge und dem dunkelgrauen Fußboden. Ein Küchentisch aus Kirschholz reflektiert wärmeres
Licht auf die Gesichter der dort Sitzenden als ein Glastisch oder eine stahlblau lackierte Oberfläche.
Karton matt türkis • Matt turquoise cardboard Mehr zum Thema im neuen Buch von Ulrike Brandi Licht Natur Architektur (s. a. AIT 1/2.2024, Seite 65)
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