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Ulrike Brandi


            Foto: Martina Orsaka  1957 in Bad Bevensen geboren 1984–1988 Industrial Design-Studium, Ham-
                                 burg seit 1987 Lichtplanerin, Ulrike Brandi Licht Lichtplanung und Leuch-
                                 tenentwicklung, Hamburg seit 2013 Brandi Institute for Light and Design













            Foto: Ulrike Brandi Licht; Design Lichtobjekt: Christine Brandi                                                           Foto: Sergey Ananiev; Wohnung in Moskau, Vietzke & Borstelmann Architekten














             Sich überlagernde Maisblätter „glühen“ vor der gelben Wand. • Corn leaves “glow” in front of the yellow wall.  Das warme Licht definiert den kleinen Arbeitsplatz. • The warm light defines the small workplace.




             sches Licht. Im Verlauf ihrer Ausbreitung über den Planeten begannen die Menschen, sich   fantasievolle, emotionale Seite des Gehirns ansprechen, hellere Räume eher die rationa-
             den unterschiedlichen Tageslichtbedingungen anzupassen und sich dabei biologisch nur   le. Dieser Aspekt wird im Theater und Film ganz bewusst eingesetzt. Wie erfüllt Licht
             wenig zu differenzieren. Die Differenzierung geschah eher kulturell: Menschen entwickel-  unsere psychologischen Bedürfnisse, und wie füllt es die Atmosphäre eines Raumes? Die
             ten unter verschiedenen Klima- und Landschaftsbedingungen unterschiedliche Strategien   Verhaltenspsychologin Ingrid Gehl hat eine Systematik entwickelt, die sich mit den psy-
             zu bauen, sich zu schützen und zu ernähren. Diese wiederum prägen in Verbindung mit   chologischen Grundbedürfnissen von Menschen in Bezug auf Architektur und Städtebau
             Landschaft und Klima die Lebenswirklichkeit der Menschen seit Generationen.  befasst. Diese bietet einen praktischen Ansatz, um das Wohlbefinden zu verbessern. Es
                                                                          gibt acht Bausteine des psychologischen Wohlbefindens: Kontakt zu anderen Menschen,
             Wie Lichtvorlieben in den unterschiedlichen Kulturen entstehen  Privatsphäre, Raum für vielseitige Erfahrungen, Sinnstiftung, Spiel, Struktur und Orien-
                                                                          tierung, persönlicher Einfluss und Ästhetik und Schönheit. Ihre Systematik lässt sich
             In Lebensweisen, Architektur und Städtebau manifestiert sich, wie verschiedene Kultu-  wunderbar auf Licht übertragen. Licht, das die Kommunikation unterstützt, bildet den
             ren ihren Umgang mit Licht ausbilden; kulturell unterschiedliche Erfahrungen führen zu   gemeinsamen Mittelpunkt für den Spieleabend in der Wohngemeinschaft. Oder es ist das
             verschiedenen Vorlieben und Abneigungen. Am augenfälligsten ist diejenige für warmes   Kerzenlicht fürs romantische Dinner der frisch Verliebten. Gezielte Lichtgestaltung kann
             oder kaltes Licht, abhängig vom Breitengrad des Ortes der jeweiligen Kultur. Besonders  Privatsphäre schaffen. Sanft modulierte Lichtunterschiede und dunklere Bereiche hinter
             die unterschiedlich langen Dämmerungsphasen an verschiedenen Orten der Erde prägen   oder zwischen helleren Arealen können Rückzugsorte schaffen. Ich erinnere mich, wie
             die Sehgewohnheiten der Menschen. Morgen- und Abenddämmerung mit dem Übergang   wir uns als Kinder unter dem Tisch und der herunterhängenden Tischdecke versteckten.
             zwischen Hell und Dunkel sind überall verschieden. Menschen, die in Äquatornähe leben,   Diese Höhle war dunkel und geborgen, das Licht war durch den Stoff gedämpft. Eine
             kennen den Übergang von hellem Tageslicht zur dunklen Nacht als ganz kurze Zeitspanne   Lichthierarchie kann dabei helfen, Struktur und Orientierung zu schaffen. Im öffentlichen
             von wenigen Minuten. In dieser Zeit können die Augen nicht voll an die plötzliche Dunkel-  Raum können unterschiedlich hohe Lichtpunkte Durchgangsstraßen von Quartiersstra-
             heit adaptieren. Daher ist für sie der Übergang zu einem unmittelbaren tageslichtweißen   ßen und internen Wegen unterscheiden. Hohe Lichtpunkte wirken allgemeiner, während
             hellen Kunstlicht abends und nachts logisch und angenehm, sogar in Restaurants. Darüber   niedrigere Lichtpunkte eine gemütlichere Atmosphäre schaffen. Dies gilt genauso für den
             wundern sich die BesucherInnen aus dem Norden. In der Nähe zu den Polen dauert die   Wohnraum. Niedrigere Lichtinseln definieren Funktionsbereiche: eine Sitzecke, einen
             Dämmerung länger, und sie erlaubt es den Augen, parallel zum langsamen Dunkelwerden   Arbeitstisch, einen Eingang oder eine beleuchtete Skulptur.
             zu adaptieren. Es gibt eine lange Phase des orange-warmen Abendhimmels, sodass die
             Menschen im Norden in ihren Häusern ein warmes Kunstlicht bevorzugen. Nicht nur der  Gesundes Licht in Wohnungen
             Breitengrad, sondern auch Landschaft und Naturmaterialien prägen unsere Verbundenheit
             mit einer Farb- und Lichtatmosphäre geografisch unterschiedlich.  Differenziertes Licht ist das Geheimnis einer guten Lichtplanung. Der herkömmliche zent-
                                                                          rale Lichtauslass in der Decke wird immer unbeliebter und dysfunktionaler. Licht in unse-
             Nach welchem Licht sehnen wir uns?                           rer Wohnung lässt auf die Persönlichkeit schließen. Die Lichtatmosphäre ist Ausdruck
                                                                          unserer Kreativität, die Auswahl der Lichtobjekte in der Bandbreite zwischen klar und ver-
             Unsere Kindheitserinnerungen an Wohnorte sind oft mit bestimmten Atmosphären ver-  spielt zeigt unseren persönlichen Geschmack und Stil. Smarte Steuerungstechnik erlaubt
             bunden, die durch Licht, Geräusche und Gerüche geprägt sind. Das Wissen über die psy-  uns, mit Variationen in Lichtfarbe und Helligkeit zu spielen, und gibt Raum für Kreativität.
             chologische Wirkung von Licht auf Menschen hilft uns, Licht angemessen zu planen und   Fest steht aber auch: Das gesündeste (und nachhaltigste) Licht ist Tageslicht. Mit seinem
             bestimmte Nutzungen gezielt zu stärken. Wir wissen, dass dunklere Lichtsituationen die   Tag-Nacht-Rhythmus beeinflusst es alle Lebewesen auf der Erde und steuert wichtige bio-

                                                                                                                           AIT 3.2024  •  111
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