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Kristina Raderschad
Studium der Kunstgeschichte, Architektur und Innenarchitektur in Toulouse
und Düsseldorf. Nach dem Volontariat Redakteurin bei G+J. Seit 2005 freie
Autorin in Köln. Seit 2022 Senior PR Consultant Neumann Communication.
Fotos: fotografieSCHAULIN
Eixo Monumental mit Blick zum Praça dos Três Poderes (1) • A view of the Praça dos Três Poderes (1) Besucher vor dem Supremo Tribunal Federal (3) • Visitors in front of the Supremo Tribunal Federal (3)
von • by Kristina Raderschad, Köln
W er Brasilien bereist, berauscht sich an der tropischen Schönheit Rio de Janeiros, des Supremo Tribunal Federal (3), dem Gebäude des Obersten Gerichtshofs, sowie die
Legislative, in Form des Congreso Nacional (4), dem Sitz der brasilianischen Regierung.
relaxt an den Stränden Ipanemas oder stürzt sich in die quirlige Kunst- und Wirt-
schaftsmetropole São Paulo. Nur wenige Touristen finden den Weg ins Landesinnere, wo Letzterer besteht aus Senat und Abgeordnetenkammer, dazwischen ragen zwei Hochhäu-
Ende der 1950er-Jahre in Rekordzeit die neue Hauptstadt aus staubigem Boden gestampft ser mit Büros auf. Die Plenarsäle beider Kammern befinden sich in dem quer zur Eixo
wurde. Brasília liegt auf einem Hochplateau und ist eigentlich nur per Inlandsflug zu Monumental liegenden Flachbau: Der des Senats unter der konkaven Kuppel, der des
erreichen. Für Architekturfans jedoch, die davon träumen, die legendäre „Samba-Mo- Abgeordnetenhauses unter der konvexen Schale. Doch zurück zum Palácio do Planalto,
derne“ live zu erleben, führt kein Weg an einem Wochenende in der Hauptstadt vorbei. der als eines der ersten Gebäude Brasílias errichtet und 1960 eingeweiht wurde: Er ist
Ein Spaziergang ähnelt einem Gang durch einen Architekturführer – reihen sich ikonische gekennzeichnet durch eine für Regierungsbauten der damaligen Zeit eher unkonventio-
Gebäude im Zentrum doch aneinander wie Perlen auf einer Schnur. Auch über sechs Jahr- nelle Transparenz. Zu dem gläsernen Quader im Kern kombinieren sich wie aufgefächert
zehnte nach ihrer Erbauung haben Oscar Niemeyers markante, mal organisch geschwun- wirkende, weiße Säulen an seinen Flanken. Sie haben die von Niemeyer gewünschte
gene, mal majestätisch erhabene und dabei immer lässig und leicht wirkende Bauten Wirkung, der das Gebäude als „leicht wie eine Feder, die auf dem Boden landet“ sah. Das
aus Beton nichts von ihrer Faszination verloren. Aber Achtung: Für Fußgänger ist der Weg fast spiegelgleiche Gegenüber an der Südseite des Platzes, der Supremo Tribunal Federal,
über monumentale Achsen manchmal mühsam; wie alle Utopien der Moderne wurde wiederholt die Formensprache des Präsidentenpalastes. Verschiedene Skulpturen und
auch Brasília für das Automobil geplant. Von Niemeyer selbst, der 2012 kurz vor seinem Monumente schmücken zudem den Platz der drei Gewalten; etwa Pantéon y Pira (5),
105. Geburtstag verstarb, ist das Zitat überliefert: „Sie können diese Stadt mögen oder entworfen von Oscar Niemeyer 1985.
nicht, aber Sie werden nicht behaupten können, so etwas schon mal gesehen zu haben.“ r 12:00 Uhr – Das Museu Histórico de Brasília (6), auch bekannt unter dem Namen
Museu da Cidad, ebenfalls nach Plänen Niemeyers errichtet, soll die Geschichte des Auf-
Samstag: Ein Spaziergang durch das Zentrum der Macht baus der Hauptstadt bewahren. Ein Besuch lohnt sich; insbesondere die historischen
Aufnahmen aus der ersten „heißen“ Bauphase belegen den Wahnsinn, mit dem diese
Mit Präsident Juscelino Kubitschek begann die Geschichte von Brasília. Als er 1955 die gebaute Utopie innerhalb von nur fünf Jahren Gestalt angenommen hat: Auf einem mit-
Wahlen gewann, sollte endlich eine neue Hauptstadt her, als Zeichen des Aufbruchs in ten in der Savanne abgesteckten gigantischen Kreuz entstand unter maximaler Mobilisie-
eine moderne, bessere Zukunft. Brasília sollte dem Land eine neue Identität geben; und rung aller Kräfte eine Idealstadt, die bis heute von außen betrachtet wirkt wie ein Modell
Oscar Niemeyer (1907–2012) wurde diesem Anspruch mit seiner Architektur gerecht. Der aus weißem Styropor. Kritische Stimmen bezeichnen Brasília als kalt und quadratisch –
Wegbereiter der brasilianischen Moderne entwarf die wichtigsten öffentlichen Gebäude und tatsächlich ist die strenge Aufteilung in Sektoren nicht unbedingt das, was man heute
für die neue Hauptstadt. Er hatte nach seinem Architekturstudium in Rio unter anderem an einer menschenfreundlichen Stadt schätzt. Ausgehend vom Platz der drei Gewalten
mit Le Corbusier zusammengearbeitet und setzte früh fast ausschließlich auf Stahlbeton reihen sich entlang der Monumentalachse beispielweise alle Ministerien – unter anderem
als Baumaterial, dem er allerdings ganz neue Anwendungsmöglichkeiten jenseits der das Ministerio de Defesa (7) – als massive gesichtslose Schränke aneinander.
strengen Orthogonalität erschloss. Niemeyer brachte den Beton „zum Tanzen“ und hielt r 15:00 Uhr – Eine Ausnahme von so viel Gleichförmigkeit bieten das Ministerio de Justi-
in futuristischer Formensprache mit kurvenreichen Konturen stets ein ausgewogenes Ver- cia (8) und der repräsentative, öffentlich zugängliche Part des Außenministeriums: Beim
hältnis zwischen Volumen und freiem Raum ein, der diese erst ganz zur Geltung kommen sogenannten Palácio de Itamaraty (9) mit seinen eleganten Betonbögen (man nennt ihn
lässt. Das zeigt sich am wichtigsten Platz in Brasília, wo wir unseren Besuch beginnen: daher auch Palácio dos Arcos) verschwimmen die Grenzen zwischen Innen und Außen
r 09:00 Uhr – Der Praça dos Três Poderes (1) vereint die drei Staatsgewalten am Ostende scheinbar – nicht zuletzt auch dank der spiegelnden Wasserflächen der von Licht und Luft
der Eixo Monumental auf einer imposanten Freifläche von 120 auf 220 Metern: Die Exe- durchfluteten Innenräume und der von Burle Marx gestalteten innenliegenden Gärten, in
kutive in Form des Präsidentenpalastes Palácio de Planalto (2), die Judikative in Form denen üppige tropische Pflanzen blühen.
AIT 1/2.2024 • 033