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REDINGS ESSAY

                                 DAS RASENSTÜCK






                                                             Ein Essay von Dominik Reding





            S   von Georg Schrimpf, eine Vorstadtszene von Gustav Wunderwald, Reinhold Nä-  drei, vier Wassereis, aber mein Bruder verteidigte seinen Vorschlag vehement: „Sonst
                tellen Sie sich das, was folgt, wie ein Stillleben von Alexander Kanoldt, ein Porträt
                                                                          lohnt es sich nicht.“ Und ich stimmte zu. Vor den Garagen trafen wir uns, wie verabredet,
            gele, Carl Grossberg, wie eines dieser Bilder aus der Zeit der neuen Sachlichkeit vor, in  mit Tommy und Annika. Aufgekratzt und vorfreudig, für sie war es ein neues, Abenteuer
            denen alles gleich wichtig ist: der Kaktus, die Streichholzschachtel, das Fenster, die ge-  versprechendes Spiel. Wir waren ernster. Verkaufen … da muss man Erwachsene anspre-
            blümten Gardinen davor, die Tischdecke darunter und jedes Verkehrsschild, jeder  chen, sie davon überzeugen, wie schön diese Rasentücke und ihre 50 Pfennige wert sind.
            Grashalm, jeder Bordsteinpoller dahinter.                     Und weil alles neu und ganz und gar ungewohnt war, entschieden wir uns, die Rasen-
            Wir schwankten, wir grübelten, wir diskutierten. Vor uns lag eine übergroße, übermensch-  stücke an einem Ort zu verkaufen, den wir niemals zuvor betreten hatten: an der großen
            liche, eine Titanen-Aufgabe. Wir wollten etwas verkaufen. Ein Stück Rasen. So mit Löwen-  Straße hinter der Reihenhaussiedlung! Mutig stapften wir voran, vorbei am Parkplatz,
            zahn und Gänseblümchen. Die Sonne stand tief über dem abgeernteten Acker, in den  vorbei sogar am letzten, hintersten Reihenhausgarten. Und dann, zwischen zwei Aschen-
            Tagen, bevor die ganz kalte Zeit kommt, wenn die Entfernungen größer zu werden schei-  tonnen, öffnete sich der Blick: Breit wie ein Platz war die Straße und, vielleicht weil sie
            nen und die Sicht klarer. Auch das Gehör, aufmerksamer, auf alles achtend, das Knistern  wirklich etwas abgeschnitten, etwas vergessen hinter der neuen Siedlung lag, kaum be-
            des Eises unter den Füßen, das heisere Bellen der Hofhunde, weit entfernt. Früh, zu früh,  fahren und menschenleer. Und vor uns, auf der anderen Straßenseite, da erhoben sich
            war ein erster, dünner Schnee gefallen, hatte den schwarzen, gepflügten Acker gegenüber  Holzklötzchen-Häuser! Wie aus unserem Kinderbaukasten, die Fenster und Haustüren
            der Reihenhaussiedlung weiß überstaubt. Wir hatten draußen mit zwei Nachbarskindern  auf den Fassaden so arrangiert, dass sie ernsten, fast grimmigen Gesichtern glichen. Viele
            bis zur Erschöpfung gespielt und jetzt, atemlos und erhitzt, mit Mützen, Mäntelchen und  Jahre später lernte ich, dass solche Häuser in den 1930er-Jahren errichtet wurden; dass
            dicken Schals, lehnten wir an den verwaist auf der Terrasse zurückgeblieben Gartenstüh-  man sie „Kaffeemühlen“ nennt, mit ihrer quadratischen Form, dem Pyramidendach und
            len und sahen im Licht der tief stehen Sonne etwas, zum ersten Mal bewusst, was der  dem Schornstein in der Firstmitte; und dass jene Häuser in der  abgelegenen Straße einst
            Sonnenstand des Jahres sonst versteckt ließ. Wir sahen den Rasen am Jägerzaun, der  für die Ingenieure einer benachbarten Fabrik errichtet wurden, erbaut voller Hoffnungen
            dort, die Klingen des Mähers konnten ihn nicht erreichen, ein Rest wildwuchernder Wiese  und dem ganzen Ersparten der Bauherrschaft, junge Paare mit dem ersten, zweiten Kind,
            war, mit Pusteblumen, unverzagt blühenden Gänseblümchen und geheimnisvollen Grä-  wo dann erst die Gatten, später auch die Kinder in den Krieg zogen und von den glück-
            sern, die unsere Mutter missmutig „Unkraut“ nannte. Die                          lichen Familien nur die Witwen blieben, allein in den Häu-
            Sonne ließ den Schnee schnell schmelzen, ließ die Wasser-                        sern, deren Putz rissig wurde, die das Efeu überwucherte.
            tropfen auf den Blättern und Halmen glitzern wie Kristall-                       Dort, vor einem dieser Häuser, stellten wir die Apfelsinen-
            glas. „Oh!“, sagten wir. Und entschieden uns, dieses Wun-                        kiste auf den Gehweg, die vier Einweckgläser darauf, und
            derwerk zu verkaufen. Verkaufen? Verkaufen! Aber was ist                         warteten und warteten und warteten und … Da! Endlich!
            das? Wie geht das? Wir grübelten, wir überlegten, wir be-                        Zwei Fußgänger! Ein junges Paar. Sie sahen uns, sie blieben
            sprachen gewissenhaft unser Vorhaben, und die zwei Nach-                         stehen und mein Bruder fragte mit stockender Stimme:
            barskinder, deren Namen und deren Gesichter aus der Erin-                        „Wollen Sie kaufen?“ Und dann, mein Bruder ballte vor in-
            nerung entschwunden sind (und denen ich, der Einfachheit                         nerer Anstrengung die Fäuste dabei: „Nur 50 Pfenning!“
            halber, die zeittypischen Namen Tommy und Annika geben                           Aber die beiden schüttelten nur die Köpfe und gingen, für
            werde), hörten, so jedenfalls schien es uns, interessiert zu.                    uns unerklärlich amüsiert, weiter. Der Nachmittag verging,
            Was Kaufen ist, hatten wir schon gesehen. Bei den Gängen                         die Sonne sank, Tommy und Annika wurden unruhig, quen-
            mit den Eltern zum Supermarkt, an der Fleischtheke zum                           gelig. Sie hatten ein wildes, spannendes Spiel erwartet und
            Beispiel, an der wir immer ein Stück Wurst geschenkt beka-                       nun geschah rein gar nichts. Wie öde dieses „Verkaufen“
            men. Und die wir, die Verkäuferin legte größten Wert darauf,  Foto: Benjamin Reding  war. Sie zogen von dannen, grußlos. Aber auch wir beka-
            in ihrer Gegenwart verspeisen sollten, respektive mussten                        men Zweifel. Vielleicht war etwas falsch an diesem „Verkau-
            (und es auch taten), oder wenn die Eltern danach in einer                        fen“, vielleicht war es einfach ungehörig, Rasenstücke für
            Menschenschlange vor einer Maschine standen, die klingelte, schnarrte und klickerte und  50 Pfenning anzubieten, die doch, wir schauten uns um, selbst hier üppig wuchsen. Und
            sie bedruckte Papierscheine hervorholten, die sie „Geld“ nannten und es einer weiß-be-  plötzlich, ohne dass wir darüber sprachen, schämten wir uns. „Was habt ihr denn da?“
            kittelten Frau an dieser Maschine gaben. Das war also Kaufen. Aber Verkaufen?   Wir hatten die ältere Dame nicht kommen sehen. Sie betrachtete die vier Gläser kritisch.
            „Wir müssen es morgen machen.“ Wir deuteten auf die untergehende Sonne, aber das  Die Dame war, auch wenn einem Viereinhalbjährigen fast jeder Mitmensch „alt“ vor-
            war nur ein vorgeschütztes Argument. Unser Vorhaben, das Verkaufen, war für uns Vier-  kommt, wirklich betagt. Die Haare grau, die Haut knittrig, die Bewegungen langsam und
            einhalbjährige so fordernd und komplex, dass wir es ohne Ablenkungen, ohne Tommy  tastend. „Das sind unsere Blumengestecke.“ (Mein Bruder sagte wirklich „Blumenge-
            und Annika, vorbereiten mussten. Wir klaubten Messer und Löffel vom heimischen Ess-  stecke“, vielleicht hatte er einmal Erwachsene so reden hören.) „Aha“, sagte sie, „was
            tisch, besorgten uns vier leere Einmachgläser aus dem Vorratskeller und eine alte, höl-  kostet denn eines?“, und deutete auf das größte und, wie ich fand, auch schönste Glas.
            zerne Apfelsinenkiste, als „Verkaufstisch“. Unser erstes Shop-Design. Nach dem Mittag-  Jetzt hoffte ich, mein Bruder würde nicht sagen: 50 Pfennig. „50 Pfennig!“ Mein Bruder
            essen entwischten wir in den Garten, liefen zum Jägerzaun, betrachteten abwägend die  rief es, sehr bestimmt. Auch wenn seine Stimme etwas zitterte dabei. Sie überlegte, be-
            dicksten Grasbüschel und die vier schönsten davon (mit blühendem Gras, vielen Gänse-  trachtete uns, den „Verkaufstisch“, die Einmachgläser. „Dann schau ich mal“, sie drückte
            blümchen und tollem „Unkraut“) gruben wir mit Messer und Löffel aus und stopfen sie  meinem Bruder die riesige Summe eines Fünfzigpfennigstücks in die Hand. „Die stelle
            in die Einmachgläser. Aber was sollte es kosten? Was kostet ein Stück Rasen mit Blumen?  ich mir ins Fenster.“ Für einen kurzen Moment verdrängte ein Lächeln die Falten in ihrem
            Als Kind war uns das klarer als heute, wir wussten, so etwas könnte man niemals selbst  Gesicht. Sie nickte sich selbst zu, nahm das Glas und ging. In eines der efeuberankten
            „machen“: Pusteblumen, Rasen, Wassertropfen. Aber es gab viel Jägerzaun und viele  Kaffeemühlenhäuser. Und jetzt gingen auch wir. Die drei übrig gebliebenen Rasenstücke
            Gänseblümchen und noch mehr Rasen, es konnte so teuer nicht sein. „50 Pfennig“, sagte  pflanzten wir zurück an den Jägerzaun, zu den anderen taunassen Kräutern, Gräsern und
            da mein Bruder entschlossen. Unglaublich! So viel Geld, das war ja mehr wert, mehr als  Pusteblumen, die, das spürten wir, unbezahlbar sind.

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