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REDINGS ESSAY
                                                   ICH HABE




                                                  GEKLAUT!





                                                             Ein Essay von Dominik Reding





            M    achen wir es kurz; seien wir ehrlich; sagen wir es direkt: Ich habe geklaut. Einen  der Zeit verschwindet das schlechte Gefühl, und man macht weiter.“ Clarissa (Radio-
                 Pullover, V-Ausschnitt, Baumwolle, hellgrau. Ladenpreis: 29,95 DM. Ja, Mark,
                                                                          Moderatorin, 54 Jahre): „Ja, als Kind eine Tesafilm-Rolle, als Teenager gelbe Plastik-
            das Ganze ist schon eine Weile her. Wie der Laden aussah, in dem ich geklaut habe?  Ohrringe, als Erwachsener eine Ingwerknolle. Der Tesafilm war eine Mutprobe, die
            Ich weiß es nicht mehr. Nur an meinen erhöhten Pulsschlag und faden Angstschweiß-  Ohrringe fand ich schön, aber waren mir zu teuer, und für die klitzekleine Ingwerk-
            Mief erinnere ich mich. Es war eine Mutprobe, nicht gegenüber anderen, den Kumpels,  nolle wollte ich nicht bezahlen. Ich fand, ich tat dem Laden einen Gefallen, denn das
            der Schulklasse, Angehörigen einer Jugendbewegung, sondern gegenüber mir selbst.  Ding hätte sowieso niemand mehr gekauft.“ Nora (Musikerin, 31 Jahre): „Es passiert
            Wenigstens mal was klauen, wenn man schon kein Freak, Hulk, Rockstar, Übermensch  mir manchmal, dass ich etwas auf der Straße finde und mich bemühen könnte,
            oder Weltherrscher ist. Natürlich ging die Sache schief. Zwei Ladendetektive rannten  den/die Besitzer/in zu finden, es dann aber lieber behalte, weil es schön ist, einen
            mir bis auf die Straße hinterher. Den handfeuchten Pulli nahmen sie zurück. Und trotz  Schal oder Pullover oder Armreif. ... Meist verliere ich dann irgendwann etwas im Ge-
            böser Blicke und allerlei großer Ankündigungen: Polizei, Hausverbot, Strafrecht, Ju-  genzug, also gleicht es sich hoffentlich Karma-mäßig aus. Stifte landen auch mal in
            gendknast, und wie ich innerlich noch ergänzte: Einzelhaft, Schlafentzug, Zwangsarbeit  der Tasche. Oder gute Sprüche! Sonst bin ich eine recht ehrliche Haut, fürchte ich.“
            im Steinbruch, aberkanntes Abitur, ließen sie mich laufen und die Sache auf sich be-  Heute ist man sich einig: Das Klauen, Stehlen, Mopsen, Mausen, Entwenden, Langfin-
            ruhen. Danach ging ich nicht mehr in dieses Viertel der Stadt und hasste Pullover mit  gern ist nicht nur moralisch verwerflich, es ist eine Straftat nach § 242 StGB und wird
            V-Ausschnitt, besonders die in Hellgrau. „Du sollst nicht stehlen.“ So steht es in Stein  mit bis zu fünf Jahren Gefängnis geahndet. Das war einmal anders. Nein, nicht die
            gemeißelt in den Zehn Geboten und mit Druk-                                             Strafe, aber die Sicht darauf. 1840 schrieb der
            kerschwärze im Strafgesetzbuch. Aber ich tat                                            Ökonom und Philosoph Pierre-Joseph Proudhon
            es. Und andere tun es auch. Tun Sie es? Ich                                             in seinem Buch „Qu’est ce que la propriété?“:
            kenne  keinen  Dieb.  Nicht  in  meiner  Umge-                                          „Eigentum ist Diebstahl! Wenn 40 Taler reichen,
            bung, nicht persönlich. Aber ich habe auch                                              um unseren Lebensunterhalt zu sichern, dann
            noch nie in meiner Umgebung danach gefragt.                                             ist der Besitz von 200.000 Talern ein offenbarer
            Hast Du geklaut? Ist ja eine etwas unanstän-                                            Diebstahl, eine Ungerechtigkeit.“ Auf diese Un-
            dige Frage, impliziert sie doch schon die leise                                         gerechtigkeit  antworteten  die  Sozialisten  mit
            Ahnung, Behauptung, Vermutung, der/die Ge-                                              der fast überirdisch-edlen Idee einer kommuni-
            fragte könnte es doch irgendwo, irgendwie, ir-                                          stischen Gesellschaft, in der allen alles gehört
            gendwann,  vielleicht,  ein  bisschen  getan                                            und Diebstahl eben darum unmöglich würde.
            haben. Und wenn ja, so grüble ich, warum                                                Die dem Anarchismus nahestehenden Illegali-
            wurde geklaut? Ist das nicht sogar die schmerz-                                         sten (was für ein Wort! ) aber griffen den Dieb-
            haftere Frage? Warum setzt man sich mal so                                              stahl bei den Hörnern und beklauten offensiv
            eben über Gottes Gebot und Strafgesetzbuch                                              und öffentlichkeitswirksam die Reichen, um die
            und die eigene Moral hinweg? Ach, nur Mut,                                              Beute dann ebenso offensiv und öffentlichkeits-
            jetzt werde ich fragen:                                                                 wirksam an die Armen zu verteilen – vorneweg
            Marie (Grafikdesignerin, 38 Jahre): „Ja, ein-                                            der  gelernte  Schriftsetzer  Marius  Jacob,  der
            mal, mit zwölf Jahren, 20 Mark aus dem Porte-                                           seine illegale Selbstlosigkeit mit 24 Jahren Straf-
            monnaie meiner Mutter. Mein Vater, mit dem                                              kolonie bezahlte, und Clement Duval, der erst
            ich mich gut verstand, starb, als ich acht Jahre Foto: Benjamin Reding                  als  Soldat  durch  eine  Granatenexplosion  ar-
            alt war. Meine Mutter, die sehr streng, sehr re-                                        beitsunfähig, dadurch zum Dieb und nach Jahr-
            ligiös war, gab mir kein Taschengeld. Immer,                                            zehnten  im  Gefängnis  schließlich  zu  einem
            wenn ich etwas Geld brauchte, musste ich ihr ganz genau erklären, wofür. Das wurde  anerkannten Schriftsteller wurde, mit Sätzen wie diesem: „Diebe existieren nur durch
            einfach nervig. Natürlich kam es raus. Sie hat mich geohrfeigt und dann zwei Wochen  die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Wenn die Gesellschaft einem das
            nicht mehr mit mir gesprochen. Das war schlimm.“ Jan (Versicherungsangestellter,  Recht auf das Dasein aberkennt, dann muss man es sich nehmen.“
            55 Jahre): „Nein, also, ich habe noch nix geklaut, weil ich das fies und rücksichtslos  Einmal noch habe ich geklaut. Es führt zu weit, alle Umstände zu erklären, nur so viel:
            gegenüber den anderen finde. Bezahlen müssen es am Ende nicht die Geschäftsleute,  Lange hatte ich nichts mehr gegessen, war ohne Geld, ohne Mut, und mein Körper sig  -
            sondern die kleinen, ehrlichen Kunden … und ja, ein Angsthase bin ich außerdem.“  nalisierte mit kaltem Schweiß und zitternden Unterschenkeln, er würde den Dienst
            Ruben (Techniker, 29 Jahre): „Ja, ich habe öfters mal was geklaut. Besonders im Alter  bald versagen. Da entdeckte ich in der Auslage eines Obstladens eine Birne. Eine ein-
            von zehn bis 15. Insgesamt wurde ich dreimal erwischt und zweimal musste ich mit  fache, saftige, reife Birne. Ich beschleunigte meinen Gang, ich schaute nicht in den
            auf die Polizeiwache. Zuerst waren es Süßigkeiten und später Alkohol und vor allem  Laden, ich ergriff die Birne und verschlang sie, hinter der nächsten Straßenecke, gierig,
            CDs. Oft mit Kumpels zusammen. Warum? Naja, es gibt immer so schöne Sachen, die  seibernd, bibbernd. Was ich tat, wäre, als es geschah, straffrei geblieben. Damals galt
            man gerne haben möchte, und wenn es dann eine Möglichkeit gibt, auch umsonst  noch der Paragraf des Mundraubes (ehem. § 248a, Abs. 1 und Abs. 2. StGB, die soge-
            dranzukommen, dann ist das natürlich umso besser. Taschengeld war auch immer  nannte Verbrauchsmittelentwendung) als letzte Erinnerung daran, dass Menschen
            knapp. Und wenn man dann ein paar Mal erfolgreich war, denn gibt es ja auch erst  auch aus Not Diebstähle begehen. Er wurde, nachdem die Regierung erklärte, dass es
            mal keinen Grund, damit aufzuhören. Erwischt werden ist natürlich bitter, aber mit  solche Situation in Deutschland nicht mehr gäbe, strafverschärfend abgeschafft.

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