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Redings Essay
DIE ZWILLINGE, DIE
SICH NICHT KANNTEN
Ein Essay von Dominik Reding
D er Willy-Millowitsch-Platz gehört nicht zu den Sehenswürdigkeiten Kölns. Ein Aaron auf der Dom platte in Köln trainiert, das Erwachsenwerden auch. Er hörte Punk,
schiefes Rechteck am Rand der Innenstadt, umgeben von einförmigen Wieder auf -
wir New Wave, er kaufte seine Klamotten via Bestellung in den USA, wir im Sommer -
bauhäusern und 80er-Jahre-Architektur mit Kupferdächlein und verspiegeltem Glas. schlussverkauf bei C&A, er kiffte, wir tranken Bier. Und er feierte Partys. Richtige Partys.
Zwischen den Pflastersteinen drängeln sich ein Baum, eine Parkhauszufahrt, eine Laut, ausdauernd, maßlos. Und lud mich dazu ein. Dann zeigte er Tricks auf dem
Würstchenbude und der namensgebende Volksschauspieler als dicker Bronze mann auf Skateboard und, in einem ruhigeren Moment, Zeichnungen und selbst gebaute Möbel.
einer bronzenen Parkbank. Marie-Claire, die junge Assistentin des Film verleihs, begleitet Nach der Schule wolle er Architektur studieren. Etwas ent werfen und bauen zu können,
mich zur Besprechung. Ihr französischer Akzent und ihre freundliche Art machen das etwas, das bleibt, das wäre das Größte, sagte er. Und schnappte sich sein Skateboard
Gespräch erträglich, dabei will uns der Verleih nur mit einem schlechten Vertrag ganz und sauste die selbst-gezimmerte Rampe herunter. Latein ist eine wunderschöne
fix über den Tisch ziehen. Erst ein Arbeitsessen am Dom, jetzt geht es zu den Sprache, aber muss man sie können? Für ein Medizin- oder Jurastudium oder wenn
Unterschriften ins Büro. Dazwischen liegt der Millowitsch-Platz. Schnee regen beschleu- man Cicero im Original lesen möchte bestimmt, aber zum Jungsein, Glücklichsein,
nigt den Gang. Und dann bleibe ich plötzlich stehen, trotz Zeit druck und Regen. „Liebe Freisein? Ein La tein lehrer wird das natürlich anders sehen. Und Herr Kötter sah es
deine Stadt.“ Eine Leuchtschrift in Rot über anders. Sein Unterricht war streng. Er gab nur
einem weißen Pavillon. Mitten auf dem Platz. für Fehler Punkte. Casus, Genus, Nu merus, drei
Dünne weiße Stahl stützen tragen ein dünnes, Fehlerpunkte für jedes nicht übersetzte Wort. 30
weißes Flach dach. Darunter ein weißer Tresen Fehlerpunkte für ein Unge nü gend. Die Klau -
und drei weiße, hell erleuchtete Schränke. suren gab er nach Noten geordnet zurück. Die
Seltsamer Bau, kühl, streng, sachlich und doch Einsen zuerst, die Sech sen zuletzt. Waren die
fast klassisch mit den Stützen und seiner Dreien durch, wurde es im Klassen raum un -
Symmetrie. Eine Art Mini-Parthenon auf dem ruhig, nach den Vieren wur de es still und nach
Millowitsch-Platz. Es gab dort auch etwas zu den Fünfen gab es bittere Seuf zer und ver-
kaufen. Unterhosen und Scho kolade und einzeltes Weinen. Mit einer knap pen, wegwer-
Schneeku geln. „Wer hat das entworfen?“, frage fenden Geste legte Herr Köt ter die Klausur auf
ich die Schneekugel-Verkäuferin. „Ein Kölner Aarons Tisch. Aaron wusste natürlich, was er
Architek tur büro“, antwortet sie, „Ball..., ähm, bekommen hatte. Aber Aaron seufz te, fluchte,
Bull..., oder...“ „BeL vielleicht? Anne-Julchen weinte nicht, er lächelte. Wie der die ses jugend -
Bernhardt und Jörg Leeser?“, sage ich. Sie nickt. lich-übermütige, etwas spöttische Lä cheln. „Die
Die Ver leih-Assistentin schaut mich an, bemerkt nächste Klausur ist deine letzte Chance“, mahn-
es zu erst. „Alles in Ordnung?“ „Ja klar“, lüge ich. te Herr Kötter. Alle wuss ten, dass es diese
„Sie sehen so verändert aus, irgendwie er schöpft Chance nicht gab. Und weil Aaron schon in Köln
oder traurig.“ „Nein, gar nicht, alles prima.“ Ich einmal sitzen geblieben war, erfüllte sich nach
lüge wieder. Das mit dem Trau rigsein, ich könnte Foto: Benjamin Reding der nächsten Klausur das von Herrn Kötter her-
ihr erklären, warum. Aber es ist zu lange her, zu beigesehnte Schicksal. Aaron bekam in Latein
kompliziert, und ich sage nichts: Das Drama eine Sechs, musste das Gymnasium verlassen
begann nach den Schul fe rien, an einem sonnigen Montagmorgen im September. Der und verlor die Chance auf Abitur und sein geliebtes Architekturstudium.
Rektor kam persönlich in un sere Klasse, neben sich ein langer, dünner Kerl, der, ganz Auf Bitten der Inhaberin schnitt er sich die Haare kurz, zog einen Anzug an und begann
anders als wir, schon sehr er wachsen daherkam. Blond gefärbte Haare, Klamotten, die eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann in einem Ge schäft für Designermöbel.
es in meiner Heimatstadt gar nicht zu kaufen gab, und ein Skateboard unterm Arm. Aaron kiffte jetzt nicht mehr. Er nahm etwas anderes. Zwei Jahre später war er tot, Über -
„Das ist Aaron aus Köln, der wird jetzt mit euch gemeinsam das weitere Schuljahr ver- dosis Heroin. Mein Leben ging weiter, ich machte Abitur und begann mein Studium,
bringen.“ Dann, als wäre ihm die Sache lästig, verließ der Rektor grußlos den Architektur in Aachen. Und staunte: In die erste Vorlesung kam Aaron. Blond gefärbte
Klassenraum. Betont langsam ging unser neuer Mitschüler zu einem freien Platz. „Salve! Haare, Klamotten aus den USA und ein Skateboard unter dem Arm. Aber das konnte ja
Und ich bin Herr Kötter, der Lateinlehrer“, sagte Herr Kötter. Aber der Neuzugang drehte nicht sein. War es auch nicht. Der Kommilitone hieß Jörg Leeser. Sogar der Akzent
sich gar nicht zu Herrn Kötter um. Packte nur eine Dose Cola aus seinem Rucksack und stimmte. Rheinisch. Jörg kam aus der Nähe von Düsseldorf. Einmal hätten sie sich sogar
riss sie zischend auf. „Gegessen und getrunken wird bei uns in der Pause. Nicht im begegnen können. Beim Surfurlaub in Biarritz. Beide waren im selben Sommer dort. Sie
Unterricht.“ Der Neue sagte nichts, lehnte sich zurück und schob die Dose mit der sind es nicht. Aber im Studium, da wären sie sich begegnet. Ganz bestimmt. Sie mocht-
Fingerspitze zwei Zenti meter von sich weg, dann lächelte er, breit und spöttisch. „Wenn en ja beide die strenge, kühle, sachliche Architektur.
du im Lateinlernen auch so schnell von Kapee bist, kommen wir bestens miteinander
klar.“ Herr Kötters Stimme schwankte, die Feindschaft war besiegelt. Das Skaten hatte Den Pavillon Liebe deine Stadt von BeL stellen wir im Forum auf Seite 014 vor.
048 • AIT 1/2.2016