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WOHNEN • LIVING THEORIE • THEORY
„Wenn mich jemand mit dem Auto mitnimmt
oder mir Essen ausgibt oder mir einen Platz
zum Pennen anbietet, dann ist mir das gleich,
ob das ein türkischer Familienvater ist oder
eine Afrikanerin oder ein Schwuler. Wenn
du auf der Straße lebst, dann sind Vorurteile
Kacke. Punkt.“
PHILIPP, 27 Jahre, Zimmerer,
seit acht Monaten auf Wanderschaft
Fotos: Benjamin Reding
Weitere Bildpaare aus der Serie „Kluft & Haut“ finden Sie in unserer Rubrik „Foto und Raum“ ab Seite 126. • Please find additional pairs of photographs from the “Kluft & Haut” series in our „Foto und Raum“ section.
KLUFT & HAUT
PORTRÄTS JUNGER MENSCHEN AUF DER WALZ – EIN TEXT VON DOMINIK REDING
von • by Dominik Reding
Die Menschen hinter der Architektur – das sind nicht nur Architek- andergesellen! Das sind doch diese wackeren Handwerksburschen, die in di ck -
ten und Innenarchitekten, sondern auch die Handwerker auf der W en, schwarzen Breitcord-Klamotten gewandet, mit Filzhut auf dem Kopf und
Baustelle: Betonbauer, Steinmetze, Maurer, Zimmerer und Schlos- prall geschnürtem Reisebündel über der Schulter durch blühende Kornfelder ziehen;
ser. Knapp 500 von ihnen gehen in Deutschland noch auf die tradi- rechts den knorrigen Knotenstock in der breiten Pranke, links einen frisch gezapften
tionelle Walz; arbeiten also heute hier, morgen dort. Unsere Kolum- Hum pen Bier; die in den Kneipen dreimal auf den Tisch klopfen, ihr uraltes, gereimtes
nisten Dominik und Benjamin Reding haben den „tippelnden“ Ge- Sprüch lein aufsagen und mit strahlendem Lächeln um etwas Wegzehrung und einen
sellen mit „Kluft & Haut“ nun ein fotografisches Denkmal gesetzt. klei nen Reise-Obolus bitten; hoch auf dem Dachfirst flink die Sägen, Äxte und Hämmer
Wie es dazu kam, erläutert Dominik Reding in seinem Text. schwin gen, beim Richtfest muntere Reden halten und nach Feierabend lautstark Volks-
lieder intonieren. Bürgermeister lassen sich mit ihnen fotografieren und Minister und
The human beings behind the architecture – these are not only the Bun despräsidenten. Seit 2015 sind sie sogar immaterielles Weltkulturerbe der UNESCO
architects and the interior designers but also the craftspeople on und es gibt sie käuflich: als Porzellanfiguren, als Aschenbecher-Motiv, als Schnitzerei und
the building site: concrete workers, stonemasons, bricklayers, car- als Zinnteller über dem Tresen in gutbürgerlichen Gaststätten: Wandergesellen! „Das ist
penters and metalworkers. Just short of 500 of them still take to the keine Uniform“, die beiden Wandergesellen, eine junge Frau und ein junger Mann, beide
road, the traditional going on the “Walz” in Germany; they work im schwarzen Cord der Zimmerleute, antworten mürrisch. Auf einer Autobahn-Raststätte
here today, there tomorrow. With “Kluft & Haut”, Dominik and Ben- stehen sie, in den Regen mischt sich Schnee. Sie, ihre Gesichter, ihre Kleidung sind dre -
jamin Reding have now photographically memorialized the “Wan- ckig und durchnässt. Schwer und unförmig sehen sie aus, wie sie da vor dem Auto ste-
dergesellen”. Dominik Reding explains how this came about. hen und sich gegen den Regen ducken. „Aber eure Klamotten, die sehen doch alle gleich
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