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SERIEN PERSPEKTIVWECHSEL • CHANGE OF PERSPECTIVE



                                                                          r Seit 2020 nehmen Sie am Master-Programm „Art and Public Space“ an Oslos
                                                                          Nationaler Kunstakademie teil. Was erwarten Sie sich von Ihrem Studium?
                                                                          Zwei Jahre an der KHIO, umgeben von der faszinierenden Natur Oslos, erlauben es mir,
                                                                          Teil einer internationalen Künstlergemeinschaft zu sein, über den Kern meiner Tätigkeit
                                                                          nachzudenken, meine Interessen zu hinterfragen und technische Fähigkeiten in Mate-
                                                                          rial-Workshops zu erwerben. Das Studium ermöglicht es mir, Vorlesungen internationa-
                                                                          ler Künstler und Akademiker zu verfolgen, die unterschiedliche Ansichten über den öf-
                                                                          fentlichen Raum vertreten. Und ich kann neue Techniken und Medien kennenlernen,
                                                                          um im öffentlichen Raum zu arbeiten.

                                                                          r Hat sich Ihre Kunst thematisch verändert, seit Sie auf sicherem Terrain leben, und
                                                                          gibt es Querverbindungen zu früher?
                                                                          Ich habe Erfahrungen gesammelt, die sich vielleicht auf meinen sicheren Kontext über-
                                                                          tragen lassen, beispielsweise mein Interesse für Politik und Architektur. Im ersten Stu-
                                                                          dienjahr des Programms MAPS – Masters in art and public space – wurden wir dazu auf-
            Foto: Danielle Karam                                          gefordert, ein Kunstprojekt für die Ausstellung am NITJA, einem neuen Kunstzentrum in
                                                                          einer kleinen Stadt nahe Oslo, zu entwerfen, die gerade dabei ist, sich städtisch zu ent-

                                                                          auf, und speziell jene wenigen, die sich der Innenstadtentwicklung widersetzten. Eine
            „Beach towel“ bespielte die Ruine eines Wasserturms in Batroun • „Beach Towel“ in Batroun  wickeln. Als ich Lillestrøm zu Fuß erkundete, fielen mir die farbenfrohen Holzhäuser
                                                                          meiner wichtigsten Entdeckungen war das „Zwinkernde Haus“, ein verlassenes Haus,
                                                                          das abgerissen und durch ein neues Wohnhochhaus ersetzt werden sollte. Es „zwin-
                                                                          kerte“ durch die gleiche Art von Vorhängen, die ich seit Jahren an leeren Fenstern in-
                                                                          stalliere. Diese Situation erinnerte mich an Beirut, wo der Wiederaufbau ein Reflex ist.
                                                                          Die Rettung und der Wiederaufbau dieses Hauses erschienen mir als etwas sehr Natür-
                                                                          liches. Ich kontaktierte die Abbruchfirma, holte deren Genehmigung ein, Teile des Hau-
                                                                          ses einzusammeln, und baute diese im NITJA wieder auf. Meine Kommilitonin Yildiz,
                                                                          die für ihr eigenes Projekt mit einem lokalen Reha-Zentrum zusammenarbeitete, lud Pa-
                                                                          tienten dazu ein, die Ausstellung am Tag unserer Prüfung zu besuchen. Einer der Patien-
                                                                          ten namens Jarle erkannte das Zwinkernde Haus am Vorhangmuster. Yildiz rannte in
                                                                          den zweiten Stock des Kunstzentrums, wo wir nach den Prüfungen Mittagspause mach-
                                                                          ten, und rief „Jad, du musst runterkommen. Da ist ein Typ, der sagt, es sei sein Haus".
                                                                          Voller Zweifel lief ich zu ihm, hoffte aber, es wäre wahr. Und es war wahr! Wir hatten
                                                                          damit nicht nur den Besitzer des Hauses ausfindig gemacht, sondern es stellte sich auch
                                                                          heraus, dass sich mit dieser Begegnung ein Kreis für meine Installation schloss, die Teil
                                                                          meines Heilungsprozesses nach dem Explosionstrauma von Beirut war. Denn Jarle hatte
                                                                          1989 bei der UN-Armee gedient und beim Säubern von Minenfeldern im Libanon gehol-
                                                                          fen. Durch die Depression und das Trauma hatte er ein kaputtes Auge davongetragen.
                                                                          Ich lud „Den zwinkernden Mann“ ein, seine Geschichte aus dem Fenster seines wieder
                                                                          aufgebauten Hauses heraus zu erzählen. Er erklärte, wie ihn die Entwicklung der Stadt
                                                                          beeinflusste, und er erzählte von seinen posttraumatischen Erfahrungen.
            „Halle aux Vents“: Projekt für die Halle aux Sucres, Dünkirchen • „Halle aux Vents“ in Dunkirk
                                                                          r Wie sehen heute die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Architekten im Libanon
            „Zwinkerndes Haus“: Projekt für NITJA, Lillestrøm, und KHiO, Oslo • “Winking House“ in Lillestrøm and Oslo  aus, und was sind die dringlichsten Architektur- und Infrastrukturaufgaben?
                                                                          Korrupte Politik, machthabende Kriegsverbrecher, die Überpopulation aufgrund von
                                                                          mehr als 300.000 Flüchtlingen und vieles mehr ließen Beirut zu einer grauen, ver-
                                                                          schmutzten Stadt werden. Kommerzielle Architekten im Libanon hatten bis 2020 viele
                                                                          gut bezahlte Jobmöglichkeiten. 2020 war jedoch eines der härtesten Jahre im Libanon:
                                                                          Eine unterdrückte Revolution, die nach grundlegenden Menschenrechten schrie, Ban-
                                                                          ken, die die Menschen um ihr Geld brachten, die lokale Währung, die das Zehnfache
                                                                          ihres Wertes verlor, COVID und nicht zuletzt die Hafenexplosion, die mehr als 200 Men-
                                                                          schen das Leben kostete. Nicht-kommerzielle Architekten übernehmen nun durch die
                                                                          Mittel unabhängiger gemeinnütziger Organisationen den Wiederaufbau der Stadt. Jetzt
                                                                          gilt es, die zerstörten Häuser und die Grundversorgung wieder aufzubauen. Dann be-
                                                                          steht hoffentlich die Chance, für ein paar Parks zu kämpfen und die privatisierte Küste
                                                                          zu befreien, die als ein öffentlicher Strand gedacht ist.

                                                                          r Lange ist es her. Vor dem Libanesischen Bürgerkrieg (1975–1990) galt Beirut als das
                                                                          „Paris des Nahen Ostens”. Ist das für Sie denn noch irgendwo spür- und sichtbar?
                                                                          Das ist nicht mehr ersichtlich. Ich kann Beirut als „Paris des Nahen Ostens“ aber immer
                                                                          noch in wenigen Dingen erkennen, bei kulturellen Happenings, in neuen Kunstgalerien,
            Fotos: Jad El Khoury                                          tags mit dem Rad herumzucruisen, wenn kaum Autos auf den Straßen fahren.
                                                                          auf Vernissagen, in Theatern, bei klassischen Konzerten, auf Techno Raves oder in der
                                                                          Freiheit, mit Freunden in einer Bar in Gemmayzeh etwas trinken zu gehen oder sonn-


            040 • AIT 12.2021
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