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Jad El Khoury


                                                                           1988 geboren im Libanon 2014 Master in Architektur, Lebanese University of
                                                                                                                                       Foto: Damien Steck
                                                                           Fine Arts seit 2015 Künstler, zahlreiche internationale Ausstellungen, Instal-
                                                                           lationen, Preise 2020-2022 Masterstudium Art and Public Space, KHIO, Oslo






















                                                                          Foto: Elie Abou Jaoude, Beirut                               Foto: Elie Abou Jaoude, Beirut






             Winner of Arte Laguna Prize Venice 2019: „The tower of wind“: Choreografie aus farbigen Vorhängen für eine Beiruter Büro-Ruine • “The tower of wind”: Choreography made of colored curtains for a Beirut office ruin.




             r Jad, erinnern Sie sich noch, wann Sie anfingen zu zeichnen?  mehr als 30 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs, steht der Turm mit seinen 400 dunklen
             Ich zeichne seit meiner Kindheit. Ich malte in der Schule und zu Hause. Wenn ich mei-  Fenstern immer noch leer. Die libanesische Armee nutzt die ersten vier Stockwerke als
             nen Stift langsam auf dem Papier, der Wand oder dem Schultisch kreisen ließ, gewann  Armeestützpunkt. Bei der Kriegsgeneration ruft der Turm bittere Erinnerungen wach.
             ich Abstand. Mein Stift war mein Werkzeug, um mich als Kind vor unkontrollierbaren  Durch meine Installation „Turm des Windes“ verwandelte ich diesen Turm der Bitterkeit
             Situationen zu schützen, mit denen ich im Libanon aufwuchs. Seien es langweiliger Un-  mit farbigen Vorhängen in eine choreografierte Installation, die förmlich mit dem Wind
              terricht, seien es Familienstreitigkeiten – keine Situation konnte an mich heran, wenn  tanzt und bei jedem Windstoß in verschiedenen Farben schimmert. Die Vorhänge, die
             ich meine Figuren in sich wiederholenden Bewegungen zeichnete. Diese Repetition  ich verwendete, findet man normalerweise auf den Balkonen der Armenviertel von Bei-
             brachte mich in einen sicheren Raum, in dem ich die Kontrolle hatte.  rut, im Osten der Stadt ebenso wie im Westen. Das Feedback der lokalen Bevölkerung
                                                                           war allgemein sehr positiv. Menschen wurden auf der Straße interviewt. Fotos meiner
             r Sie haben im Libanon Architektur studiert. Von Berufs wegen sollten Sie eigentlich  Installationen wurden in den sozialen Medien geteilt, und die Installation war in vielen
              Häuser bauen, als Urban Art Künstler arbeiten Sie hingegen mit Gebäuden, die vom  Fernsehsendungen und in Presseberichten zu sehen.
              Krieg zerstört oder verlassen wurden. Wie kam diese Wende zustande?
              Das war nie eine klare Entscheidung. Es war einfach natürlich, dass ich meine Zeich-  r Kunst ist ein Mittel, um Menschen verschiedenster Kulturen zu erreichen. Welche
              nungen zeigte. Von da an nahmen die Dinge ihren Lauf. Ich begann die Zeichnungen  Feedbacks bekommen Sie, und was bedeuten Ihnen diese Würdigungen?
             meiner Figur „Potato Nose“ zu rahmen und stellte sie auf Straßenmärkten, in Cafés und  Meine internationalen Auftritte und Würdigungen sind für mich vor allem eine starke
             an der Universität aus. Je mehr Feedback ich bekam, desto mehr wollte ich zeigen.  Motivation weiterzumachen. Außerdem werde ich dadurch wahrgenommen. Das führte
             Schließlich fertigte ich Wandgemälde in der Stadt an. Mein Architekturstudium hatte  zu Aufträgen an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt. Und natürlich tragen die mo-
             mein Auge für das urbane Gefüge geschult. Der Auswahlprozess der Gebäude und Fas-  netären Entlohnungen dazu bei, dass ich meinen Lebensunterhalt zum Teil mit der
             saden, die ich bemalen wollte, wurde zum Bestandteil meiner Kunstwerke. So rückten  Kunst bestreite. Die meisten meiner Projekte waren anfangs selbst finanziert. Dann fing
             die verlassenen, vom Krieg zerstörten Gebäude in meinen Fokus. Ich wusste bereits im  ich an, mit Kunstmäzenen und Galerien zu arbeiten, die mich sponserten. Und ich be-
             Architekturstudium, dass ich von der Architektur mehr wollte als einen Job, der den  gann auch, im Auftrag von Kunstzentren, Museen und Street Art Festivals zu arbeiten.
             Wünschen von Stadtentwicklern und dem Kapitalismus dient.     Der „Turm des Windes“ erhielt den Ersten Preis in der Kategorie „Urban Art“ des Arte
                                                                           Laguna Prize Venice 2019. Daraufhin wurde ich eingeladen, viele zeitgenössische Ruinen
             r Ihre Projekte haben, wie Sie sagen, viel mit Architektur zu tun. Die temporäre In-  rund um die Welt sowie Museen und Kulturzenten zu bespielen. Ich sehe diese Projekte
             stallation Burj el Hawa, der Turm des Windes, mit dem Sie bekannt wurden, war  als Ableger des Turms des Windes. An jedem neuen Ort nahmen die Vorhänge eine an-
             eine ebenso poetische wie politische Aktion. Erklären Sie uns Ihre Idee!  dere Form und Bedeutung an: 2019, anlässlich der Countless Cities Biennale auf Sizilien,
             Burj El Murr, der Murr-Turm, ist ein Monument des Schreckens, das im Zentrum von  interpretierten meine textilen Vorhänge die Vorhänge aus Plastikstreifen, die normaler-
             Beirut steht. Die Bauarbeiten begannen 1974. Das Hochhaus sollte ein Superstar wer-  weise in den Türen sizilianischer Cafés hängen. Ebenfalls 2019, in der künstlerisch-wis-
             den, das höchste Bürogebäude im Mittleren Osten. Und es sollte das Wachstum des gol-  senschaftlichen Ausstellung „Plein vent!“ – Starkwind! – im Kulturzentrum Halle aux Su-
             denen Zeitalters von Beirut repräsentieren. Durch den Einsatz der damals neuesten Bau-  cres im französischen Dünkirchen erinnerten die Vorhänge die lokale Bevölkerung an
             technologien wuchs der Turm um ein Geschoss pro Woche. 1975 begann der Bürger-  die Stoffe historischer Strandzelte. Am Nationalmuseum von Beirut ahmten die Vor-
             krieg. Der Bau wurde gestoppt und der Turm zu einer Scharfschützenbasis und einem  hänge die Säulen des Portals nach. Im norwegischen Stavanger reaktivierten sie eine
             unterirdischen Foltergefängnis. Verschiedene Milizen übernahmen dieses strategische  leerstehende Fischfabrik, und 2020, im libanesischen Batroun, nahmen sie auf dem ver-
             Hochhaus zwischen West- und Ostbeirut auf muslimischer und christlicher Seite. Heute,  lassenen Wassertank am Strand die Rolle von Strandtüchern ein.

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