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SERIEN PERSPEKTIVWECHSEL • CHANGE OF PERSPECTIVE
jektes mitzudenken und mitzuplanen, sodass sie als Teil des Objektes verstanden wer-
den können. Es gibt vielerlei Beispiele, die von Gegos Architekturausbildung zeugen. In
ihrer künstlerischen Praxis weiß sie das erlernte Wissen gezielt und gleichzeitig spiele-
risch einzusetzen.
r Welchen Stellenwert genoss und genießt Gego international, und welche Ausstel-
lungen wurden und werden ihr weltweit gewidmet?
Gego zählt zu den wichtigsten KünstlerInnen Lateinamerikas. Zu Lebzeiten war sie in
Nord- und Südamerika allen ein Begriff; das MoMA in New York kaufte um 1960 bereits
eine erste Arbeit der Künstlerin an – nur wenige Jahre, nachdem sie überhaupt erst mit
Foto: unbekannt, © Archivo Fundación Gego ihrem Tod, zeigte das Museum of Fine Arts in Houston eine erste große Gego-Retrospek-
ihrer künstlerischen Praxis begonnen hatte. Zu Beginn der 2000er-Jahre, also nach
tive und rief sie international wieder in Erinnerung. Seither werden ihre Werke weltweit
ausgestellt. Im Jahr 2013 und 2014 präsentierte auch das Kunstmuseum in Stuttgart ge-
meinsam mit dem Henry Moore Institute in Leeds und der Kunsthalle in Hamburg eine
spektive in Mexiko fortgesetzt, die vor der Pandemie in São Paulo begonnen hat. Wei-
tere Destinationen sind die Guggenheim-Museen in New York und Bilbao.
Cuerdas, 1972: Komplex Parque Central (Ansicht von oben), Caracas • Cuerdas, 1972: Parque Central complex wandernde Überblicksschau zu Gegos Werk. Im Oktober wird eine große Gego-Retro-
Sin título, 1953: Holzschnitt auf Papier, (10,2 auf 14,5 Zentimeter) • Sin título, 1953: woodcut on paper r Welche Werke im Innenraum und im öffentlichen Raum konnte Gego in Vene-
zuela realisieren, und welche davon sind bis heute erhalten?
Zwischen 1958 und 1983 „baute“ Gego neun Arbeiten im öffentlichen Raum von Cara-
Foto: Frank Kleinbach, © Archivo Fundación Gego; Dauerleihgabe im Kunstmuseum Stuttgart
cas. Zwei dieser Arbeiten sind verschollen, zwei sind demontiert und eingelagert, die
restlichen fünf sind teils in desaströsem Zustand. Gegos „Parallelarchitekturen“ sind bis
heute kaum erforscht. Erste Schritte konnte ich bereits setzen. Im Rahmen einer For-
schungsreise nach Venezuela und eines anschließenden Projektseminars an der Uni-
versität Stuttgart haben wir – gemeinsam mit Prof. Dr. Kerstin Thomas und Prof. Dr.
Klaus Jan Philipp – diese Werke gemeinsam mit Studierenden der Institute für Kunstge-
schichte und Architekturgeschichte untersucht. Dabei sind modellhafte Objekte ent-
standen, die auch in meiner Ausstellung „Gego. Die Architektur einer Künstlerin“ ge-
zeigt wurden. Ab 1969 begann Gego zudem ihre wohl bekannteste Werkgruppe Reticu-
lárea zu entwickeln: eine raumgreifende Installation, bei welchen Gego die Bewegun-
gen der BetrachterInnen durch diese netzartigen Strukturen als wichtigen Bestandteil
der Arbeit verstand. Ideen zur zeitlichen Ausdehnung von Räumen kannte sie unter an-
derem aus Stuttgart von Bodo Rasch und Heinz Wetzel. Im selben Jahr wurde die Werk-
gruppe auch in New York präsentiert. Die letzte große Reticulárea wurde 1982 in der
Alten Oper in Frankfurt umgesetzt. Diese gilt heute als verschollen. In Caracas im
Museo de Bellas Artes hat sich eine solche ortsspezifische Arbeit erhalten. Gego hat
Sin título (Tamarind 1845), 1966: Lithografie auf Papier (56,3 auf 56,9 cm) • Sin título, 1966, lithography on paper dort 1977 einen eigenen Raum für eine Dauerpräsentation konzipiert. Leider ist der
Raum seit einigen Jahren geschlossen. Man arbeitet aber an einer Wiedereröffnung.
r Was können junge ArchitektInnen heute von Gego lernen? Welche Eigenschaften
ermöglichten es ihr, sich im Berufsleben durchzuboxen?
Foto: Frank Kleinbach, © Archivo Fundación Gego; Colección Fundación Gego, Dauerleihgabe im Kunstmuseum Stuttgart
Ich denke, dass Gegos Vielseitigkeit im Umgang mit unterschiedlichen Medien und Ma-
terialien und ihr klares, sensibles, ortsspezifisches Denken, das sich vor allem bei ihren
Arbeiten im öffentlichen Raum zeigt, Aspekte sind, die für viele eine Inspiration sein
können. Auf der praktischen Seite gelang es ihr stets, sich den Anforderungen und der
gegebenen Situation anzupassen, was einerseits von einer hohen Flexibilität zeugt, an-
dererseits haben ihr Werk und ihre Arbeit dabei nie an Präzision eingebüßt. Mir scheint,
dass diese Kombination es ihr ermöglichte, ein Œuvre zu schaffen, das unglaublich klar
ist, ohne an Komplexität zu verlieren. Außerdem denke ich, dass Gego nicht nur große
handwerkliche Fähigkeiten besaß, sondern dass sie vor allem auch Humor hatte. Des-
halb sind ihre Arbeiten oft von einer spielerischen Leichtigkeit gekennzeichnet.
r Im Kunstmuseum Stuttgart ging im Juli die von Ihnen kuratierte, vielbeachtete
Gego-Ausstellung „Die Architektur einer Künstlerin“ zu Ende. Das Museum besitzt
fast 100 Werke der Fundación Gego in Venezuela als Dauerleihgabe. Wird Gego
also auch künftig in Stuttgart präsent sein?
Die Dauerleihgabe wird noch für einige Jahre im Kunstmuseum in Stuttgart verbleiben
und hoffentlich auch darüber hinaus. Das ist ein sehr besonderes Werkkonvolut mit
einem klaren Bezug zu Stuttgart, der sowohl für die Kunst- als auch die Architekturge-
schichte sehr wichtig ist. Das Stuttgarter Kunstmuseum ist das einzige im deutschspra-
chigen Raum, das über eine solche Dauerleihgabe verfügt. Weltweit reiht es sich nun
050 • AIT 9.2022