Page 2 - AIT0922_Kuenstlerin
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Foto: Isidro Núñez, © Archivo Fundación Gego  Gego            Stefanie Reisinger




                                                                           1988 geboren in Linz 2009–2018 Studium der Kunstgeschichte, Kultur-
                                  1912 geboren in Hamburg 1932–1938 Architekturstudium in Stuttgart 1939
                                  Emigration nach Caracas, Architektin 1953 erste Kunstwerke 1962 Profes-
                                                                           und Sozialanthropologie in Wien seit 11/2019 Forschung zu „Gego in Stutt-
                                  sur Universidad Central de Venezuela 1964 Professur Fundación Neumann
                                                                           gart“, Kuratorin der Ausstellung „Gego. Die Architektur einer Künstlerin“

             G   ertrud Louise Goldschmidt studierte von 1932 bis 1938 mit Begeisterung Archi-
                 tektur an der Technischen Hochschule Stuttgart. Wie wurde ihre Karriere als
             jüdische Architektin seinerzeit ausgebremst?
             Kurz nachdem Gego in Stuttgart ihr Studium begann, wurde Hitler Reichskanzler. So
             wie für alle Jüdinnen und Juden wurde auch Gegos Leben zunehmend bedroht. Jahr-
              zehnte später beschreibt sie ihre letzten Jahre in Deutschland als Ritt über den Boden-
              see – in Anspielung auf Gustav Schwabs Gedicht „Der Reiter und der Bodensee“. Dass
             sie ihr Studium beenden konnte und erst zwei Wochen nach den Novemberpogromen
              ihr offizielles Diplom erhielt, war nur mithilfe ihrer Professoren möglich. Gego war
             unter den letzten jüdischen Studierenden in ganz Deutschland, denen das ermöglicht
              wurde. Bereits 1936 erneuerte man ihre Studienregisterkarte; der gelbe Hintergrund
              wies sie als Jüdin aus, der rote Balken als Frau, und an ihrer Diplomfeier nahm sie
             schließlich gar nicht mehr teil, weil sie dort nicht erwünscht war. Architekturbüros, für
             die sie während der Studienzeit arbeitete, mussten schließen, da den Leitern als Juden
              die Mitgliedschaft in der Reichskammer der bildenden Künste verwehrt blieb und Be-                                       ... Colección Fundación Gego, Dauerleihgaben im Kunstmuseum Stuttgart
              rufsverbote folgten. Dennoch gab es auch Ausnahmen, und Gego fand immer wieder
              Arbeit, beispielsweise bei Bodo Rasch und Oskar Bloch in Stuttgart.  Bildunterschrift • englisch

              r Viele KünstlerInnen und ArchitektInnen waren während der NS-Zeit gezwungen,
             ins Exil zu gehen. Hatte es Gego als Frau, Jüdin und Emigrantin dreifach schwer?
             Ja, leider. Als Jüdin wurde Gego in ihrer ersten Heimat Deutschland verfolgt und musste
             fliehen. In ihrer zweiten Heimat Venezuela war es ihr nicht möglich, als Frau und Im-  Sin títúlo, 1955: Holzschnitt auf Papier (13 auf 14,5 Zentimeter) • Sin títúlo, 1955: woodcut on paper
             migrantin in einem technischen Beruf Fuß zu fassen. Ihre Ausreiseakte zeigt deutlich,
             dass sie alle Arbeitsmaterialen – vom Reißbrett bis zum Lineal – mitnehmen wollte, um  Bicho 89/8, 1989: Stahl und Acryl (14 auf 24 auf 26,6 Zentimeter) • Bicho 89/8, 1989: steel and acrylics
             für ihre Karriere gut ausgestattet zu sein. Ihre Boxen kamen allerdings nie an. Zudem
             kannte man den Beruf der Architektin dort nicht, wie sie selbst in den 1950er-Jahren in
             ihrer Wiedergutmachungsakte festhielt. Trotz all ihrer Bemühungen und einiger weni-
             ger Aufträge, die sie realisieren konnte, gab sie schließlich auf und entschied sich, eben-
             falls Mitte der 1950er-Jahre, der Kunst einen ernsthaften Platz in ihrem Leben zu geben.
              r Auf einer Postkarte an ihren einstigen Professor Paul Bonatz schrieb Gego, sie sei                                     Fotos Mitte und oben: Frank Kleinbach, © Archivo Fundación Gego, ...
             „der Architektur verloren gegangen“. Wie fand sie einen neuen Wirkungskreis?
             Diese selbstbewusste Formulierung, dass sie „der Architektur verloren gegangen“ sei,
              möchte ich nochmals betonen. Sie schrieb diese Zeilen an Bonatz, als sie begann, Kunst
              zu machen. Zudem führt sie fort, dass ihre Ausbildung als Architektin sie „gewiss ge-
              formt“ hätte. Und es war eben auch Gegos Ausbildung, die ihr half, unter den venezu-
             lanischen KünstlerInnen eine äußerst eigenständige Position einzunehmen. Die „Geo-
              metrische Abstraktion“ und der „Cinetismo“ waren dort die vorherrschenden Kunstbe-  Reticulárea, 1969: Museo de Bellas Artes, Caracas • Reticulárea, 1969: Museo de Bellas Artes, Caracas
              wegungen. Gego selbst schrieb sich nie einer sogenannten Strömung zu, und wenn
              man ihr vielseitiges Werk betrachtet, bestätigt sich dies auch. Dennoch war sie sehr gut
              vernetzt und mit den bekanntesten KünstlerInnen ihrer Zeit befreundet. Mit manchen,
              wie mit ihrem Partner, dem Grafiker Gerd Leufert, oder ihrer engen Freundin, der Tän-
             zerin und Choreografin Sonia Sanoja, arbeitete sie auch immer wieder zusammen.

             r Sie bezeichnen Gego als Universalkünstlerin …
             Gego plante, konstruierte, zeichnete, druckte, webte, machte Objekte, konzipierte
             raumgreifende Installationen – die sogenannten „Reticuláreas“ – und baute großforma-
             tige Arbeiten im öffentlichen Raum. Sie schuf Werke in allen Maßstäben und Medien.
             Ihr Werk ist das einer Architektin, Malerin, Zeichnerin, Grafikerin und Bildhauerin. Ihre
             dreidimensionalen Werke wollte sie nie als Skulpturen, sondern vielmehr als Struktu-
             ren bezeichnet wissen. Ich denke, das zeigt recht deutlich, wie vielfältig und reflektiert                                 Foto: Paolo Gasparini, © Archivo Fundación Gego
             sie war. Es gibt formale Referenzen im Medium der Zeichnung und Druckgrafik, die sich
             deutlich von in Stuttgart erlernten Linienpraktiken und Schraffurtechniken ableiten las-
             sen. Außerdem waren es konzeptionelle Überlegungen, wie verschiedene geometrische
             Projektionsverfahren, die unter anderem dabei halfen, die Schattenwirkung eines Ob-

                                                                                                                           AIT 9.2022 • 049
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