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Entwurf • Design Sunder-Plassmann Architekten, Utting am Ammersee
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                                                                           Standort • Location Rathausplatz 1, Denklingen
                                                                           Nutzfläche • Floor space 1152 m 2
                                                                           Fotos • Photos Christina Kratzenberg, Ostfildern
                                                                           Mehr Infos auf Seite • More infos on page 142





























             Der neue Bürgersaal dient Versammlungen und Festen. • The new civic hall is used for meetings and festivities.  Alte Bauteile und neue Nutzungen ergänzen sich perfekt. • Old components and new uses complement perfectly.



             von • by Bettina und Benedikt Sunder-Plassmann
             U   nsere Dörfer sind einem großen Wandel ausgesetzt, Höfe werden aufgegeben, die  lingen umzunutzen, zu sanieren und zu erweitern. Durch die geplante Nutzung als Rat-
                                                                           haus konnte Rücksicht auf die bestehende Grundrissstruktur des Gasthofs genommen
                 angestammte Bevölkerung schwindet, Familien aus dem Stadtrand ziehen zu. Dies
             alles bewirkt, dass die Dorfmitten veröden, Gasthöfe leer stehen, Läden und Bäckereien  werden. Die kleinteilige Raumstruktur im Erdgeschoss konnte ohne größere Veränderun-
             schließen, weil sie nicht mehr rentabel sind oder sich keine Nachfolger finden. An den  gen umgenutzt werden. Der im Obergeschoss in den 1970er-Jahren eingebrachte Tanzsaal
              Rändern der Dörfer entstehen uniforme Einfamilienhaussiedlungen ohne gemeinschaftli-  wurde durch Trennwände in eine adäquate Bürostruktur unterteilt. Diese Trennwände sto-
              che Flächen für Begegnungen. Wie kann man diese gesellschaftliche und städtebauliche  ßen jeweils mit einer Glasfuge an die Außenwände. Dadurch bleibt der ehemals weite
             Verarmung stoppen, die bewirkt, dass weite Wege in Kauf genommen werden, um das  Raum weiterhin spürbar. Durch die im Obergeschoss wieder eingebrachten Wände konnte
             Tägliche einzukaufen, Bekannte zu treffen, Gemeinschaft zu erleben? Die teils schönen,  auch der hohe raumteilende Überzug im Dachraum entfernt werden, und unter dem be-
             teils stattlichen, manches Mal sehr verlotterten Häuser unserer Dorfmitten erzählen Ge-  eindruckenden Dachstuhl wurde der neue Bürgersaal untergebracht. Für die Belichtung
             schichten von Menschen, die hier gelebt und gearbeitet, getanzt und gefeiert haben. Es  sorgen zwei Lichttrichter, die das natürliche Sonnenlicht vom Giebel in den Saal lenken.
              steckt viel graue Energie in diesen Häusern; Steine, die gebrannt, Bäume, die gefällt wur-
             den, aber auch Ideen und Muskelkraft von Menschen, die sie errichtet haben. Deshalb  Orientierung an traditionellen Baustoffen
             sollten sie ein zweites oder auch drittes Leben bekommen, eine Nachnutzung, wie dies
             beim Umbau des alten Gasthofs Hirsch zum Rathaus mit Bürgersaal geschehen ist.  Der Raum ist nun für alle Bewohner Denklingens erlebbar gemacht. Hier können wieder
                                                                           Versammlungen und Feste stattfinden. Die notwendigen Erschließungs- und Nebenräume
             Durch Umbau die Dorfmitte zurückgegeben                       für ein modernes Rathaus wurden in dem neu errichteten Anbau untergebracht: ein groß-
                                                                           zügiges repräsentatives Treppenhaus, ein Aufzug für die barrierefreie Erreichbarkeit aller
             Unsere Gesellschaft kann es sich nicht leisten, den enormen Bestand an Bauten abzurei-  Räume, ein Fluchttreppenhaus und die Sanitärräume. Die Verwaltung von Denklingen hat
             ßen und so den CO -Ausstoß sowie die Menge des dabei entstehenden Abfalls ins nicht  sich zukunftweisend für ein „papierloses Rathaus“ entschieden, sodass die Archivflächen
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             mehr Kontrollierbare wachsen zu lassen. Die drängendste Aufgabe der heute schaffenden  im Keller auf ein absolutes Minimum reduziert werden konnten. Die Materialisierung im
             Architekten ist es, bestehende Gebäude zu sanieren, energetisch sinnvoll zu verbessern  Gebäudebestand orientiert sich an traditionellen Baustoffen, wie Kalkputzen und minera-
             und, wo es nötig ist, kluge Umbaukonzepte und Erweiterungen zu entwickeln. Nur so  lischen Farben. Die alten Holz-Deckenbalken, vermutlich aus der Erbauungszeit von 1668,
             kann eine Klimaneutralität in absehbarer Zeit erreicht werden. Durch den Umbau des  sind statisch tragend und konnten durch eine Holzbetonverbunddecke erhalten werden.
              alten Gasthofs zum Rathaus und Bürgersaal wurde dem Dorf Denklingen – im Einzugsge-  Außerdem wurde sowohl im Alt- als auch im Neubau ein weißer, geschliffener Estrich auf-
              biet von München liegend – seine Dorfmitte zurückgegeben. Durch sein imposantes Dach  getragen, der die beiden Gebäudeteile miteinander verbindet und für eine helle und
             ist das Gebäude bereits von weitem sichtbar. Der unter Denkmalschutz stehende Gasthof  freundliche Atmosphäre sorgt. In den Büros schaffen gelbe Wollbespannungen an den
             Hirsch wurde im Jahr 1668 anstelle eines Vorgängerbaus errichtet. 1974 zerstörte ein Brand  Akustikelementen ein behagliches Arbeitsklima. Der Anbau ist aus Brandschutzgründen
             den Dachstuhl und die Giebelwände. Nach dem Wiederaufbau diente das Gebäude wie-  ein Betonbau, der außen mit hellen Klinkern verblendet ist. Die Sichtbetonwände werden
             der als Dorfgasthof, stand zuletzt nach mehreren Pächterwechseln leer und ab 2014 zum  durch in die Schalung eingelegte Schilfrohrmatten optisch wie haptisch aufgewertet. Zur-
             Verkauf. Die Gemeinde Denklingen erwarb das Haus, mit dem Ziel, hier das neue Rathaus  zeit wird noch der Platz um das Rathaus fertiggestellt, Asphaltflächen durch sickerfähige
             unterzubringen. In der Folge zweier Machbarkeitsstudien wurde festgestellt, dass ein bar-  Pflasterflächen aus heimischem, bayerischem Granit ersetzt. Die schöne Umgebung des
             rierefreies Rathaus im ehemaligen Gasthof Hirsch realisierbar ist, wenn der bestehende  Hauses, mit Brunnen, Stufenanlage, Baum und Verkehrsberuhigung lädt nun zum Verwei-
             Anbau durch einen funktionalen Anbau mit Treppenhaus und Aufzug ersetzt wird. Darauf-  len ein und zieht hoffentlich bald die Bürger an, den öffentlichen Raum wieder mit viel-
             hin wurde beschlossen, das Gebäude zum Rathaus mit Bürgersaal für die Gemeinde Denk-  fältigen Nutzungen zu belegen, wie dies in Dörfern jahrhundertelang gelebt wurde.

                                                                                                                           AIT 12.2021 • 125
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