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GESUNDHEIT UND WELLNESS  •  HEALTH AND SPA











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                                                                                 alle Sinne ansprechen, gleichzeitig

                                                                              aber nicht zu viele verschiedene Farben
                                                                                      und Materialien einsetzen.“

                                                                                               Sylvain Villard










            ZENTRUM FÜR TAUBBLINDE

            IN LANGNAU AM ALBIS



            Entwurf • Design Scheibler & Villard, CH-Basel


            Wie baut man für Menschen, deren Hör- und Sehvermögen stark
            eingeschränkt sind – oder gar gänzlich fehlen? Mit der Planung
            zweier  Neubauten  für  Tanne,  die  Schweizerische  Stiftung  für
            Taubblinde, betrat das Basler Büro Scheibler & Villard architekto-
            nisches Neuland. Vergleichbare Referenzprojekte, an denen sich
            die Architekten hätten orientieren können, gab es bis dato nicht.



            von • by Susanne Lieber
            B  eispiele für Blindenheime gibt es viele, nicht aber für Taubblindenheime“, erklärt
               Architekt Sylvain Villard. Aber was muss Architektur leisten, damit sich Menschen
            mit doppelt beeinträchtigter Sinneswahrnehmung orientieren können? Welche Mög-
            lichkeiten gibt es, Räume nicht nur optisch, sondern auch haptisch, akustisch und ol-
            faktorisch erfahrbar zu machen? Die beiden neuen Ergänzungsbauten der Stiftung – ein
            Wohnhaus sowie ein Schul- und Betriebsgebäude mit integrierter Cafeteria – liefern
            überzeugende Antworten. Zunächst wurde den Gebäuden, um deren Grundstruktur
            aus Beton sich Volumina in Holzelementbauweise legen, jeweils eine Farbfamilie zu-
            geordnet. Innerhalb der Farbfamilie  – Rot beziehungsweise Grün – spielen vor allem
            Hell-Dunkel-Kontraste eine wichtige Rolle. Warum, wird in einem kurzen Selbstversuch
            klar: Je stärker man die Augen zukneift, desto mehr Farbinformationen gehen verloren.
            Kontraste hingegen bleiben lange erkennbar. So ist es kein Zufall, dass im Treppenhaus
            Wand, Boden und Treppenstufen markante Helligkeitsunterschiede aufweisen, um
            räumliche Orientierung zu bieten. Dasselbe Prinzip in den Sanitärbereichen: Stark kon-
            trastierende Fugen heben das Verlegeraster der Fliesen besonders deutlich hervor. Je
            nachdem, ob diagonal, vertikal oder horizontal verlaufend, gibt das Muster Aufschluss
            darüber, in welchem Geschoss man sich befindet. Darüber hinaus ist dies haptisch er-
            fahrbar. Analog dazu wurden die Wände des zentralen Betonkörpers mit entsprechen-
            den Reliefstrukturen versehen. Selbst auf olfaktorischer und akustischer Ebene sind
            die Räume erlebbar. Unterschiedliche Materialien – Beton, Holz und Linoleum – lassen
            differenzierte Duftqualitäten entstehen. Und diese lassen Rückschlüsse darauf zu, wo
            man sich im Gebäude befindet. Auch die Akustik spielt bei der Orientierung eine wich-
            tige Rolle. Jeder Raum weist eine eigene Schallidentität auf. In den Unterrichtszimmern
            wurde beispielsweise auf besonders kurze Nachhallzeiten geachtet, um die Verständ-
            lichkeit im Raum zu optimieren. Mit diesem Vorzeigeprojekt ist beispielhaft bewiesen,
            wie stark Architektur Einfluss nehmen kann – auf alle (!) unsere Sinne.

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