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BAR HOTEL RESTAURANT
BLUE BOTTLE CAFÉ
IN SHANGHAI
Entwurf • Design Neri&Hu, CN-Shanghai
Das alte Shanghai, wie es einmal war, bevor Hochhäuser in rasanter
Geschwindigkeit die historische Bebauung verdrängten, lässt sich in
Chinas größter Stadt nur noch an ganz wenigen Orten nachempfin-
den. In einem denkmalgeschützten Areal des zentralen Jing'an District
realisierten Neri&Hu das Blue Bottle Café. Umhüllt vom nostalgischen
Flair des Gemäuers kann man sich genüsslich auf Zeitreise begeben.
von • by Annette Weckesser
E inst prägten sie Shanghai: In den 1930er-Jahren bestand mehr als die Hälfte der Stadt
aus Shikumen – langen „chinesischen Reihenhäusern“ mit dazwischen liegenden
schmalen Höfen. Diese dichte Form der Bebauung zweigt kammartig von öffentlichen
Gassen ab, die von schönen Mauerwerksfassaden geprägt werden. Steinerne Torbögen
mit Holztoren – die sogenannten Shikumen – bilden den Eingang zu diesen Siedlungen.
Ab den 1860er-Jahren waren diese Behausungen für die breite Masse von der Regierung
erbaut worden, weil die Taiping-Rebellion rund eine halbe Millionen Chinesen aus den
benachbarten Provinzen nach Shanghai trieb. Heute sind nur noch wenige dieser typolo-
gisch interessanten Gebäude erhalten. Hochhäuser verdrängten die Shikumen über die
Jahrzehnte immer mehr. Erst 2010 besann sich China auf den Denkmalschutz. Zhang Yuan
– Zhang's Garden – gilt als Shanghais größte und am besten erhaltene Shikumen-Gemein-
schaft. Um dieses Erbe zu bewahren, beschloss die Regierung, 2018 alle Bewohner
(zwangs-)umzusiedeln. Nach vierjähriger Renovierungszeit war das Areal Anfang Dezem-
ber des vergangenen Jahres wieder öffentlich zugänglich. Im Schatten der benachbarten
Wolkenkratzer soll bis 2026 ein neues Luxus-Kommerzviertel entstehen. Neri&Hu konn-
ten in einem der einstigen Wohnhäuser bereits das Blue Bottle Café realisieren. Ziegelfas-
saden sowie historische Holztüren und -fenster verströmen den Charme der Vergangen-
heit. Unter einer simplen Stahlkonstruktion befindet sich die Café-Bar. Wie ein Stand in
einer Markthalle wirkt sie. Umgeben vom gemauerten Bestand setzt das neue Implantat
einen Kontrapunkt in leichtem Material – ebenso pur, roh und einfach. Die Sitzgelegen-
heiten und Tische entlang der Fassaden sollen an das soziale Leben im Shikumen erin-
nern. Wieder verwendete, alte Möbel und neues Mobiliar mischen sich anlog zum (we-
nigen) Alten und (vielen) Neuen in Shanghai. In Detailfragen ließen sich Neri&Hu davon
inspirieren, wie die einstigen MieterInnen ihren Wohnraum in die Höfe erweiterten: Ar-
chaisch wirkende, um die Stützen herumgelegte Metallgurte dienen als Befestigung klei-
ner Tablare. Bei einer Tasse Kaffee oder Tee wird das frühere Leben im Shikumen lebendig.
092 • AIT 6.2023