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Entwurf • Design studio aisslinger, Heidestraße 46, Berlin
Bauherr • Client Fotografiska Berlin, Auguststraße 25, Berlin
Standort • Location Oranienburger Straße 54, Berlin
Foto: studio aisslinger
Nutzfläche • Floor space 7900 m 2
Fotos • Photos Patricia Parinejad, Nicolo Lanfranchi
Mehr Infos auf Seite • More infos on page 126
Beinahe alle neuen Elemente sind frei in den Raum gestellt, ... • Almost all of the new elements are free-standing ... ... um den historisch bedeutenden Bestand nicht anzugreifen. • ... to avoid any interference with the historically building.
von • by studio aisslinger, Berlin
M itten in Mitte – im Dreieck zwischen Oranienburger Straße, Friedrichstraße und des Berlins der 1990er-Jahre werden. Die langfristige Nutzung des Gebäudes aber blieb
ungeklärt. Bereits seit dem Verkauf im Jahr 2014 sollte der Komplex wieder mit Leben
Johannisstraße – bilden zehn Neubauten und drei öffentliche Plätze auf 25.000
Quadratmetern einen neuen, exklusiven Stadtraum für Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und gefüllt und in ein langfristiges Nutzungskonzept überführt werden.
Kultur. Die Generalplanung des just eröffneten Quartiers „Am Tacheles“ verantworteten
Herzog & de Meuron. Entwürfe einzelner Projekte stammen unter anderem von Grüntuch Liaison aus Alt und Neu
Ernst Architekten, Brandlhuber+ und Muck Petzet Architekten. Der geschichtsträchtige
Ort ist vor allem durch das namensgebende Herzstück des Areals geprägt, das ehemalige Der nun von studio aisslinger neu gestaltete Bestand umfasst nicht nur architektoni-
Kunsthaus Tacheles, das seit Kurzem das privat geführte Fotografiemuseum Fotografiska sche Reste des ursprünglichen Gebäudes, sondern auch die Spuren jeder Umgestaltung
in sich aufnimmt. Für die Innenraumgestaltung der neuen Ausstellungsräume mit Restau- während der unterschiedlichen Nutzungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Insbeson-
rant, Café, Bäckerei, Ballsaal und zwei Bars waren die Berliner Innen-/ArchitektInnen von dere Wände und Türen sind mit aufwendigen, denkmalgeschützten Graffiti besprüht.
studio aisslinger verantwortlich. Im Folgenden berichten sie über die Geschichte und die Die besondere Aufgabe bestand also darin, die historisch relevanten Überreste mit dem
neue Gegenwart eines der wichtigsten Denkmäler Berlins. Neuen zu verbinden. Vergangenheit und Gegenwart sollten nicht konkurrieren, sondern
gleichermaßen zur besonderen Atmosphäre des neuen Tacheles beitragen. Dabei ist eine
Geschichte eines Monuments produktive Heterogenität entstanden, in der die Vielschichtigkeit des Ortes neu erlebt
werden kann. Anders als die öffentlichen Berliner Museen im Umkreis, ist Fotografiska
Kurz vor seiner endgültigen Sprengung im Februar 1990 besetzte die Künstlerinitiative Berlin täglich bis 23 Uhr geöffnet, sodass der Ausstellungsrundgang mit einem Restau-
Tacheles die Überreste des 1909 als Friedrichstraßenpassage eröffneten Kaufhauses an rant- oder Bar-Besuch verbunden werden kann. Eine Ladenzeile mit Bäckerei, Café und
der Oranienburger Straße und verhinderte so das Ende des bis heute erhaltenen, histori- Shop im Erdgeschoss öffnet das Haus zur Stadt und verbindet es mit dem umliegenden
schen Gebäudes. Einst die zweitgrößte Einkaufspassage Berlins, war das in den 1980er- Kiez in Berlin-Mitte. Die neuen Ausstellungsräume des Fotografiska verteilen sich auf den
Jahren teilabgerissene Gebäude nur noch eine Ruine megalomanischer Kaufhausprojekte Ebenen Drei, Vier und Fünf. Der frühere „Goldene Saal“ liegt auf der ersten Etage und
aus der Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts. Schon gute 15 Jahre nach der Eröffnung erstreckt sich über eine doppelte Geschosshöhe. Zu Zeiten des Tacheles fanden hier Thea-
hatte die AEG das zwischenzeitlich zweimal insolvent gegangene Warenhaus zum „Haus teraufführungen statt. Heute ist ein multifunktionaler Ballroom entstanden, der für Kon-
der Technik“ umgewidmet. In der Zeit des Nationalsozialismus nutzten es die Deutsche zerte, Performances, Kinoaufführungen, Präsentationen und andere Events genutzt wer-
Arbeitsfront und die SS als eine ihrer Zentralen. In der DDR bemächtigte sich der Freie den kann. Technische Anschlüsse und die Klimatisierung sind diskret in die historische
Deutsche Gewerkschaftsbund des trotz Weltkriegsschäden gut erhaltenen Baus. Doch in Struktur integriert. Im Herbst 2023 eröffnete im vierten Obergeschoss das Fine-Dining-
den Folgejahren verwitterte dieser zunehmend. Ende der 1960er- und Mitte der 1970er- Restaurant Veronika, in dem sich edle Massivholztische um eine große, freistehende Bar
Jahre empfahlen zwei statische Gutachten den Abriss, der 1980 auch tatsächlich begann. gruppieren. Auch hier zeigen die Decken offen die sichtbare Stahlbetonkonstruktion des
Nur die Besetzung durch die Künstler der Tacheles-Gruppe verhinderte die planmäßige früheren Kaufhauses. Eine zum Restaurant gehörige Bar mit lässigen Sesseln und Sofas
Sprengung des Restgebäudes am 13. Februar 1990. Der Name der Gruppe Tacheles – sowie loungigem Ambiente befindet sich im fünften Stockwerk darüber. Im neuen, pyra-
ursprünglich eine Musikgruppe – ging peu à peu auf das Gebäude über. So wurde der midenartigen Dach des Gebäudes hat gerade die exklusive Rooftop Bar Clara eröffnet, die
frühere Konsumtempel zum Ort, an dem offene Meinungsäußerung und Debatten, also mit bodentiefen Schiebetüren und Fenstern den Blick auf die nächtliche Stadtsilhouette
das sprichwörtliche „Tacheles reden“, möglich war. Bis 2012 war das Tacheles ein kultu- freigibt. Durch diese großzügige Öffnung zum Stadtraum und die vielfältige Nutzung konn-
relles Zentrum der Nachwendezeit. Künstlerateliers, Ausstellungsflächen, ein Programm- te das ehemalige Kunsthaus Tacheles, das wie kein ein anderer Ort für die Experimentier-
kino und zwei große Säle für Konzerte, Lesungen und Theater ließen es zu einer Ikone freude der Berliner Nachwendezeit steht, zu neuem Leben erweckt werden.
AIT 1/2.2024 • 115