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Severin Küppers                                              Kostas Medugorac


                                  1981 geboren 2006–2012 Architekturstudium an der Hochschule Biber-  1977 geboren 1999–2005  Designstudium an der Staatlichen Akademie
                                  ach 2008 Mitarbeiter bei Graft Architekten in Berlin 2012–2016 Mitarbei-  der bildenden Künste in Stuttgart seit 2005 selbstständiger Produkt -
                                  ter bei Blocher Partners und Format in Stuttgart seit 2019 freier Architekt  designer seit 2020 Professor für Produktdesign an der TH Deggendorf








































             Interaktions- und Ausstellungsflächen sind gleichberechtigt. • Interaction and display have equal importance.  Engpässe sorgten für kreative Materialalternativen. • Supply bottlenecks required creative alternatives materials.



             mutieren immer mehr zu virtuellen Marktplätzen, auf denen die persönliche Identifi-  Fokus stellen, was die bunte Onlineshopping-Welt beim besten Willen nicht bieten
             kation mit Marken und Produkten in den Vordergrund rückt. Social Commerce strebt  kann: das Persönliche. Reale Menschen, die von Angesicht zu Angesicht individuell auf
              an, das anonyme Kaufgefühl beim Onlinehandel zu verringern und vielmehr eine per-  Kunden eingehen und so eine wertschätzende Atmosphäre schaffen – es ist diese Ge-
              sönliche Verbindung zwischen Käufer und Verkäufer im Netz zu schaffen.     genkultur zum anonymen, scheinbar unbegrenzten Onlineshopping, die den Mehrwert
                                                                           des Einzelhandels ausmacht. Eine Ausnahme stellt hier das klassische, global auftre-
             Weniger Pixel, mehr Mensch                                    tende Kaufhaus dar: Diesem gelingt es weder, die unbegrenzten Sehnsüchte der poten-
                                                                           ziellen Käuferschaft zu stillen – eine Erwartungshaltung, die kein stationärer Handel er-
             Doch könnte es sein, dass nach Monaten digitaler Überreizung aufgrund von täglichen  füllen kann –, noch stehen gigantische Shoppingtempel für Menschlichkeit und persön-
             Videokonferenzen und unzähligen Amazon-Warenkörben  der Wunsch aufkommt, wie-  liche Beratung. Bei jedem Besuch begegnet dem Kunden ein anderes Verkäufergesicht,
              der einem realen Gegenüber entgegenzutreten und an einem physisch präsenten Ein-  man geht in der Masse unter, und Anonymität statt Individualität wird groß geschrie-
              kaufsort die Dinge der Begierde selbst in die Hand zu nehmen? Weniger Pixel, mehr  ben. Der französische Anthropologe Marc Augé und der Philosoph Michel Foucault be-
             Mensch! Das dem sozialen Individuum inhärente Verlangen nach gemeinsamen Akti-  schreiben derartige lokale Phänomene als „Nicht-Orte“ und Heterotopien: monofunk-
             vitäten mit der besten Freundin oder dem besten Freund wie ein Shoppingausflug in  tionale Flächen, die weder Geschichte noch Identität aufweisen und kommunikativ
             die Stadt – könnte dies, ähnlich wie das wachsende Bewusstsein für Umweltschutz und  brach liegen. Das uniforme Auftreten an verschiedenen Standorten und das überall glei-
             Nachhaltigkeit, zu einem neuen Gut werden? Ein Blick in die Mülltonnen während des  che Produktsortiment bergen wenig Überraschendes und laden nicht zum neugierigen
             ersten Corona-Lockdowns machte es mehr als deutlich: Die Umweltbilanz des Online-  Entdecken ein. Jeder Standort zeigt das nahezu Identische. Einkaufszentren nach globa-
             handels ist miserabel. Durch die zahlreichen Onlinebestellungen stapelte sich der Ver-  lem Konzept können daher das Bedürfnis der Menschen, die einen Gegenpol zu den
             packungsmüll in den Tonnen. Es ist Fakt, dass der Onlinehandel im Vergleich zum sta-  Onlineplattformen und gerade deshalb Individualität suchen, nicht stillen. Die dazu be-
             tionären Handel hinsichtlich seines ökologischen Fußabdrucks noch Nachholbedarf  nötigten großen Showrooms und die hier schwer umsetzbaren Sicherheitskonzepte leg-
              hat. Eine weitere wenig grüne Facette des Onlineshoppings: Nach dem Prinzip Try &  ten die großen Kaufhäuser während der Pandemie fast vollständig lahm.
              Error tastet sich der Kunde solange durch das Sortiment, bis er seinen passenden Artikel
              gefunden hat. Durch eine Retourenquote von mehr als 50 Prozent, bei Schuhware liegt  Click & Collect statt Try & Error
             sie sogar bei 70 Prozent, generiert der Onlinekäufer einen enormen logistischen Auf-
             wand und nimmt in Kauf, dass die Ware immense Wegstrecken zurücklegt. Der statio-  Wie sollte sich der Handel nun präsentieren? Dieser Frage haben wir uns Mitte des Jah-
             näre Handel muss sich der neuen Herausforderung und dem Wandel stellen, statt in  res gestellt, als wir mit der Aufgabe konfrontiert wurden, für den seit 2014 agierenden
             Schockstarre zu verharren. Es gilt, Produktvielfalt auf einen Ort zu konzentrieren und  und in Stuttgart ansässigen Bergsportladen „Bergwerker“ ein neues Ladenkonzept zu
             Auswahl zu offerieren, ohne überladen zu wirken. Und vor allem muss er das in den  entwickeln. Es galt, einen Weg zu finden, der die positiven Eigenschaften beider Kon-

                                                                                                                           AIT 1/2.2021  •  103
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