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REDINGS ESSAY




                                           MANDERLEY.








                                                            Ein Essay von Dominik Reding





           L  ast night I dreamt I went to Manderley again. The drive wound away in front of   ein Stegreif-Entwurf im Architekturstudium, Thema „Instant-Bühne“. Bühne, Radio, Stu-
              me, twisting and turning as it had always done. But as I advanced, I was aware
                                                                         dium! Jetzt weiß ich es! Im Architekturstudium war mir der Bau begegnet. Im Probeheft
           that nature had come into her own again, and little by little had encroached upon the   eines dann nie erschienenen Magazins. Im Foyer der Fakultät lag es aus, „zum Mitneh-
           drive ... with long, tenacious fingers. On and on wound the poor thread that had once  men“. Die Fotos in Hochglanz, aber noch Schwarz-Weiß. „Werkstatt der Kulturen“ nannte
           been our drive, and finally there was Manderley, secretive and silent. Moonlight can   der Artikel das Bauwerk, spendete großzügig Lob, zeigte Werkstätten, Proberäume, Café
           play odd tricks upon the fancy, and suddenly it seemed to me that light came from the   und Theatersaal. Dort sollten sich die Kulturen und ihre Communities treffen, von Afrika
           windows ...“. Zwei Gefühle waren das erste, das ich wahrnahm: Neid und Sehnsucht. Ein   bis Asien, von Arabien bis Israel. Gemeinsam Kunst und Musik machen, Tanzen, Theater
           harmloser Spaziergang war es gewesen, ein spätsommerlicher Rundgang, nach gutem,   spielen, sich begegnen. Und ich dachte: Wow, eine tolle Idee – aber auch: so ein Luxus, all
           reichlichem Essen. Straßen, die ich sonst nie ging, nah, aber nachbarliche Terra incogni-  die kostbaren Räume ... In meinem Ort gab es nicht einmal ein Jugendzentrum, in meiner
           ta. Da stand es, hinter hohen, alten Bäumen, von Mauern und Zäunen umgeben, von   Schule nicht einmal einen Werkraum. Natürlich wurden auch die Architekten erwähnt,
           Gräsern und Efeu umwachsen. Hier und da ragten Zinnen, Türmchen, Gesimse über den   jung und talentiert seien sie. Ihre Namen habe ich vergessen, nicht aber das Gefühl, das
           dicht belaubten Kronen hervor. Und ich wusste, im ersten Moment schon, ich hatte das   mich beim Lesen beschlich: Neid und  Sehnsucht. Neid, auf die, die schon bauen durften,
           Gebäude schon einmal gesehen. Ich ging darauf zu, das Gefühl von Neid und Sehnsucht   sich „austoben“ und nicht mehr, wie wir, jahrelang kühn entwarfen, für Diplome, aber
           wuchs. Ein Altbauteil, vorletzte Jahrhundertwende, cremefarbene Ziegel, Bögen, Brüstun-  ohne (an-)fassbares Ergebnis. Und Sehnsucht, einmal in ferner, glücklicher Zukunft selbst
           gen, Giebel, Gewände, alle sauber geschichtet. Wohl ein Industriebau, viel Mauerwerk,   bauen, selbst endlich mit Wänden, Flächen, Lichtern, Räumen die Menschen berühren,
           wenig Fenster und ein Hauch von Schinkel. Daneben ein Anbau, ein Neubau, voluminös,   erfreuen, herausfordern, vielleicht sogar etwas ärgern zu dürfen. So eine Bühne, ha, das
           augenscheinlich aus den frühen 1990er-Jahren, den Charak-                        kann ich auch! Ein Klacks, dachte ich, und legte das Heft
           ter des Altbaus feinfühlig übernehmend. Die Außenwände                           zurück auf seinen Stapel. Jetzt war der Holzkasten zuge-
           verkleidet mit ähnlich helltonigem Ziegel, die Laibungen                         klappt, das Furnier schon rissig, die Scharniere rostig, der
           und Brüstungen dort aber aus fein-profiliertem, creme-                           Lack abgeblättert. Unkraut wucherte auf den Betonplatten
           farbenem Beton. Der Übergang zwischen Alt und Neu als                            davor. „Du musst wiederkommen!“ Beim Zahlen duzte
           Bruch inszeniert, mit einem kantigen Treppenhaus hinter                          mich der Mann hinter dem Café-Tresen. „Na klar“, sagte
           Glasbausteinen. Was für eine Mischung! Das Treppenhaus                           ich und dann: „Hier findet nicht mehr so viel statt, Konzerte
           als ironisches Zitat des „Neuen Bauens“, der Neubauflügel                        und so?“ „Doch...“ und nach einer Pause, ich war schon
           mit seinen Symmetrien, seinem Backstein und den zwei                             an der Ausgangstür: „Nein, nur noch selten... leider.“  Am
           üppigen Glaslaternen auf dem Dach, noch postmodern im                            Abend suchte ich im Netz nach dem Gebäude und seinen
           Duktus, und doch schon weiter, Vorklang der kommenden                            Architekten und fand fast nichts. Nur den Hinweis, dass die
           Zeit, mit ihrer kargen, unverspielten Strenge. „Ihr Kaffee,                      „Werkstatt der Kulturen“ 1993 eröffnet worden sei und dann
           mit Milch, mit Zucker?“ Der junge Mann hinter dem Bar-                           später, nach internen Querelen, eine neue Leitung erhal-
           tresen fragt höflich. Im entkernten Altbauteil finde ich ein                     ten habe. Keine Architektennamen. Nirgends. Ich schrieb.
           Café, spärlich besucht. „Mit Milch, bitte!“ Er schiebt die  Foto: Benjamin Reding  Einem Fachmagazin, das dem Layout des Probeheftes glich:
           Tasse über den Tresen. „Hinten gibt es einen Garten, Sie                         Keine Antwort. An ArchitektInnen, die um 1990 herum prä-
           dürfen den Kaffee gerne mit raus nehmen.“ Ich schaue                             sent, aktiv gewesen waren: Keine Antwort. Ich suchte in
           mich um, staune über die sorgfältig detaillierte Innenarchi-                     meiner Bibliothek, die einschlägige Literatur: Nichts. Zuletzt
           tektur. Vom geometrisch gemusterten Kunststeinboden bis zur dreiläufigen WC-Treppe.   schrieb ich der Baubehörde. Die werden es wissen! Und wartete. Vor einigen Tagen kehr-
           „Wissen Sie, was das Gebäude hier einmal war?“ „Ja, eine Brauerei“, „Und der Anbau?“   te ich zum Bau zurück. Das Café fand ich geschlossen und mit ihm verschwunden war
           „Da ist jetzt ein Kindergarten.“ „Und wer hat ihn entworfen?“  Ich frage auf gut Glück, der   der Mann aus dem Gaza, und der goldene Bilderrahmen und die queeren Aufkleber und
           junge Mann hinter dem Tresen schüttelt den Kopf: „Nein, das weiß ich nicht, bin noch   die Fotos und alles. Jetzt, zwischen wirbelndem Herbstlaub und Dauerregen, wirkte der
           nicht lange hier, erst seit einem Jahr in Deutschland“ „Und zuvor?“, „Gaza.“ Er spricht es   Bau noch verlassener, noch vergessener, noch mehr zurückerobert von der Natur. Jener
           aus wie ein Stöhnen. Im Café dröhnt Rap, arabischer Rap. „Gute Musik!“ Er lächelt, ich   Bau, der einst ein ganzes Heft gefüllt, mich mit Gefühlsaufruhr im Fakultätsfoyer zurück
           nicke, verrühre die Milch, betrachte das Interieur: An den Wänden Fotografien moderner,   gelassen hatte. Ich ging heim, vorbei am Park, in dem Obdachlose in ihren Zelten hausen,
           selbstbewusster Frauen, am Tresen Aufkleber: „Go vegan“, „No racism“, „No homopho-  durch die Wohnstraßen – der Brandgeruch der Demos der letzten Wochen hing noch
           bia“ und neben dem Tresen, im Goldrahmen, zwei Zeichnungen: Links ein androgyner   zwischen den Mauern –, vorbei an geschmolzenem Asphalt und ausgeglühten Baucon-
           junger Mensch mit Bärtchen und Tanktop, vor der Silhouette Bagdads lasziv Zigarette rau-  tainern, heim zu mir. Ein E-Mail wartete auf mich. Von der Baubehörde: „Urlaubsbedingt
           chend, rechts zwei bärtige junge Männer, beide oberkörperfrei und mit traditionellem Fes   konnten wir leider auf Ihre Fragen nicht antworten. Die bauliche Unterhaltung der Liegen-
           auf dem Kopf, sich zärtlich berührend. Darunter ein Wort in arabischer Schrift. Ich frage:   schaft ,Werkstatt der Kulturen‘ haben wir vor einigen Jahren abgegeben. Wir bedauern,
           „Was heißt das?“ Er schaut zum Bild: „Liebe.“ Er sagt es klar, ohne Grinsen. Draußen   Ihnen nicht weiterhelfen zu können.“ Ich löschte den Bildschirm, stellte mich ans Fenster,
           flimmert die Abendsonne durch das Laub der alten Kastanien. Zwei, drei Gäste hocken   sah dem Regen zu. Eine Stimme kam mir in den Sinn, aus einem alten Schwarz-Weiß-
           an Biertischen, in einer Ecke des Gartens steht eine Bühne, liebevoll gestaltet. Ein Kasten,   Film, „Rebecca“, eine weiche, zarte, wehmütige Stimme: „And then a cloud came upon
           wie ein altes Radio, schräge Winkel, Holzfurnier, einfache Baumarktscharniere. Alle Flä-  the moon, like a dark hand before a face. The illusion went with it. I looked upon a
           chen zum Aufklappen, um aus dem Kasten bei Bedarf eine Bühne zu zaubern. Fast wie   desolate shell...  We can never go back to Manderley again.“

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