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SERIEN PERSPEKTIVWECHSEL • CHANGE OF PERSPECTIVE



                                                                          r Auf der EXPO 2015 in Mailand begeisterte die begehbare Seilnetz-Landschaft
                                                                          des Brasilianischen Pavillons von Studio Casas/Marko Brajovic ein internationa-
                                                                          les Publikum, und auf Tomás Saracenos Seilkonstruktion „In Orbit“ in der Kunst-
                                                                          sammlung NRW sind Adrenalinschübe vorprogrammiert. Solche Erfahrungen
                                                                          haben viel mit Vertrauen zu tun. Da ist auch viel Psychologie im Spiel, oder?
                                                                          Die 2013 eingeweihte begehbare Installation „In Orbit“ in der Kunstsammlung NRW
                                                                          in Düsseldorf ist seit rund zehn Jahren ein Publikumsmagnet in der Kunstwelt. Vielen
                                                                          Besuchern jedoch gelingt es nicht, den Schritt vom Eingang auf das Netz zu machen.
                                                                          Sie kehren vor allem wegen ihrer Höhenangst um. Meist ist in Düsseldorf folgende
                                                                          Metamorphose zu sehen: Die Besucher rutschen zu Beginn langsam auf dem Hintern
                                                                          und unterstützt von Armen und Beinen übers Netz. Am Ende springen sie wie kleine
                                                                          Äffchen über die Installation. Für Kinder wie für Erwachsene ist das eine wichtige
                                                                          Lektion über Vertrauen zu sich selbst und in die eigenen körperlichen Fähigkeiten.
                                                                          Auf der EXPO in Mailand konnte man bei den über fünf Millionen Besuchern auf
                                                                          dem Netz wunderbar die große Bandbreite von Fortbewegungsarten auf dieser un-
                                                                          gewohnten Gehfläche beobachten. Manche sind auf allen Vieren gekrabbelt, manche
                                                                          haben mehr mit den Armen gewedelt, als dass sie mit den Beinen gegangen sind,
                                                                          Mutige oder Coole blieben unbeeindruckt. Ich selbst habe schon Besucher vom Netz
                                                                          geholt, da sie mitten auf der Netzfläche wie eingefroren keinen Schritt mehr machen
            EXPO Mailand 2015 – Brasilianischer Pavillon von Studio Casas/Studio Marko Brajovic  konnten. Da hilft nur Psychologie. Ich konnte erklären, dass ich als Ingenieur der
                                                                          Netzanlage für die Sicherheit persönlich verantwortlich bin. Arm in Arm konnten wir
            Sportkabinett – Spielnetz zur Landesgartenschau Bayreuth (2016)  dann in kleinen Schritten zum Ausgang gelangen.

                                                                          r Ihr Büro konnte auf internationaler Ebene zahlreiche Freigehege und Volieren
                                                                          realisieren, die durch ihre minimale Materie die Grenzen zwischen Mensch und
                                                                          Tier nahezu eliminieren. Worin liegt der besondere Reiz dieser Bauaufgabe?
                                                                          Zunächst: Jedes Freigehege ist ein Prototyp und wird in seiner Form nur einmal ge-
                                                                          baut. Für uns gibt es keine Lösungen von der Stange. Darin liegt für uns der Reiz von
                                                                          Gehegen und Freianlagen. Weltweit haben wir bereits über 350 Konzepte für unter-
                                                                          schiedlichste Tierarten entworfen und realisiert. Manchmal steht die behutsame Ein-
                                                                          bettung in einen anspruchsvollen architektonischen Kontext im Vordergrund, mal be-
                                                                          stimmen besondere klimatische Aufgaben wie Schnee oder starke Winde den Ent-
                                                                          wurf, und manchmal ist die Baubarkeit an sich die primäre Aufgabe. Hier führen
                                                                          unser Anspruch an die Materialminimierung und an die Auflösung der Grenzen zwi-
                                                                          schen Tier und Besucher einen spannenden Dialog – im doppelten Wortsinne! Aller-
                                                                          dings gibt es auch Bauherren, die unseren Anspruch leider nicht teilen. Als Folge
                                                                          dieser Denkweise – „Machen Sie nicht so viel Architektur!“ – entstehen auch heute,
                                                                          ohne unser Zutun, noch immer viele neue Gehege, die die Denk- und Bauweise von
                                                                          vor 50 Jahren widerspiegeln. Diese Gehege sind langfristig gesehen meist teurer und
                                                                          weniger dauerhaft als unsere Lösungen.

                                                                          r Ressourcenschonende Bauweisen liegen in Zeiten des Klimawandels im Trend.
            Brückenabsturzsicherung – Cornell Universität in Ithaca, Bundesstaat New York, USA (2012)  Wo sehen Sie künftig noch Potenziale bei Seil- und Netzkonstruktionen?
                                                                          Wie eingangs erwähnt, sind wir sicher noch lange nicht am Ende der Einsatzmög-
                                                                          lichkeiten von Netzen angelangt. Jörg Schlaich hatte seinerzeit bedauert, dass nach
                                                                          den realisierten Leichtbaudächern für die Olympiade 1972 in München viel zu wenige
                                                                          weitere Netztragwerke geplant und gebaut worden sind. Vielleicht wird diese Zeit
                                                                          aufgrund von Klimaänderungen und Ressourcenknappheit erst noch kommen. Die
                                                                          Potenziale dafür liegen auf der Hand!

                                                                          r Gibt es für Sie ein Traumprojekt, das Sie gerne realisieren würden?
                                                                          Klar gibt es Projekte in meinen Vorstellungen, die ich noch gerne realisieren würde.
                                                                          Zum einen würde ich gerne zwischen Wolkenkratzern in der 50. Etage oder höher ein
                                                                          Labyrinth aus frei gespannten Netztunneln und -ebenen planen und realisieren. Das
                                                                          könnte in New York, Dubai oder Tokio sein. Und dann – noch utopischer – mit der ESA
                                                                          Fangnetze zum Einsammeln von Satellitenschrott im Weltraum entwickeln und vor Ort
                                                                          die Montage betreuen – mit 23.000 Stundenkilometer um die Erde sausend.

                                                                          r Was ist das schönste Kompliment, mit dem man Ihre Arbeit je gewürdigt hat?
            Fotos: Thomas Ferwagner                                       chung in unserem Büro dafür, dass er noch etwas lernen durfte. Das sagte er nicht
                                                                          Frei Otto bedankte sich im Alter von über 80 Jahren nach einer längeren Bespre-

                                                                          aus reiner Höflichkeit. Ein größeres Kompliment gibt es aus meiner Sicht in der Welt
                                                                          des konstruktiven Leichtbaus nicht!

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