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SERIEN PERSPEKTIVWECHSEL • CHANGE OF PERSPECTIVE
für so unterschiedliche Bereiche wie Materialforschung und -prüfung, Produktions-
planung, Herstellung, Befestigungstechnologie, Montageplanung und Wartung. Im
Zuge der Erweiterung in andere Technologiebereiche haben wir auch mehrere Pa-
tente erhalten. Ein Beispiel ist die von uns entwickelte Leichtbau-Photovoltaik mit
stromerzeugenden Folien.
r Lassen Sie uns das Projekt Golden Gate Bridge in San Francisco näher beleuch-
ten. Welche Herausforderungen in der Suizidprävention galt es dort zu meistern?
Vor der Ausschreibung gab es grundsätzliche Vorüberlegungen, zum Beispiel jene,
gar keine Maßnahmen vorzunehmen, oder drei Meter hohe Glasscheiben am Gelän-
der zu befestigen. Das erste Konzept scheiterte am massiven Widerstand der Bevöl-
kerung. Zusätzliche Glasscheiben hätten den Windwiderstand erhöht und die
Brücke, die bereits heute bei sehr starken Winden über neun Meter in der Mitte aus-
schwingt, unzulässig belastet. Man entschied sich deshalb für auskragende, horizon-
tale Fangnetze fünf Meter unterhalb der Fahrbahnebene. Unsere Gespräche mit Psy-
chologen aus der Suizidprävention bestätigten die abschreckende Wirkung der Maß-
nahme, aber auch die Erkenntnis, dass es eine hundertprozentige Sicherheit nicht
gibt. Nach Überprüfung und Freigabe durch den CIA durften wir mit unserem ame-
rikanischen Planungspartner zur Baustellenbegehung auch in die Brückenkonstruk-
Wilhelma Stuttgart – Außengehege für die Bonobos (2013) tion unterhalb der Fahrbahn einsteigen, um die Positionen der Anschlagpunkte vor
Ort zu konkretisieren. Zum einen waren wir von der 90 Jahre alten Konstruktion mit
Canyon-Netz – Grindelwaldschlucht Schweiz (2016) ihren Verbindungstechniken begeistert, zum anderen erschreckte uns die Aggressivi-
tät der Meeresluft gegenüber dem Stahlbau: Geländer lösen sich einfach auf, Nieten
zerbröseln zu Staub. Nur durch die permanente Überprüfung und Sanierung durch
zahlreiche Brückenbauingenieure kann die Brücke weiterhin sicher genutzt werden.
r Die notwendige Auskragung der Seilfangnetze für die Golden Gate Bridge
haben Sie in kreativ-empirischer Weise ermittelt ...
Ja, natürlich gab es Diskussionen über die erforderliche Weite der Auskragung der
Netze, wobei unsere amerikanischen Partner diese über Berechnungen nachweisen
wollten. Ich bin da eher auf der praktischen Seite und habe über 100 Testsprünge
vom Fünf-Meter-Brett durchgeführt und vermessen – mit Turmspringern des Würt-
tembergischen Schwimmsportverbandes im Schwimmbad Kornwestheim. Dadurch
haben wir die Mindestspannweite gesichert auf mindestens sechs Meter Auskragung
festlegen können. Die Umsetzung der von uns geplanten Netzkonstruktion läuft ak-
tuell und wird aufgrund verkehrstechnischer Einschränkungen sicherlich länger dau-
ern als der Bau der gesamten Brücke in den 1930er-Jahren! Es ist ein bewegendes
Gefühl, mit seiner Arbeit als Planer auf diese Weise Menschenleben retten zu kön-
nen. Bereits vor zehn Jahren haben wir für sieben Brücken an der Cornell University
Netzkonstruktionen geplant und realisiert. Damit konnten Suizide erfolgreich verhin-
dert werden.
Jewel Net Attractions – Changi Flughafen Singapur (2019) r Die begrünte Fassade des Hauptsitzes der Swiss Re in München von Bothe Rich-
ter Teherani oder die Netzskulptur im Terminal 4 des Changi Airports in Singapur
von Snøhetta zeigen, wie emblematisch für den Charakter von Architektur Ihre
„Seilschaften“ sein können. Zu welchem Zeitpunkt werden Sie in den Entwurfs-
und Planungsprozess einbezogen, und wie begleiten Sie diesen?
Im Falle der Swiss Re hatten Bothe Richter Teherani den Wettbewerb mit der „schwe-
benden Hecke“ ohne Zuarbeit von uns gewonnen. Wir wurden von den Hamburger
Architekten im Rahmen der Ausführungsplanung hinzugezogen. Mit Hadi Teherani
und seinem Entwurfsteam stimmten wir die groben Details ab, bevor wir mit den
Stahlbauern in die Umsetzung einstiegen. Beim Terminal 4 des Singapur Changi Air-
ports hatte ich mit dem Osloer Architekturbüro Snøhetta in deren Büro bereits in der
Vorentwurfsphase die Möglichkeiten zur Fortschreibung des Konzeptes besprochen.
Diese Optionen stellten wir daraufhin dem Gremium im Flughafen Singapur vor.
Daraufhin erfolgte unsere Statik und Werkstattplanung in enger Abstimmung mit
Snøhetta. Auch bei unserer Montageplanung und -betreuung gab es immer wieder
Rückkopplungen. In den meisten Fällen werden wir idealerweise in einem frühen
Planungsstadium hinzugezogen. Dabei versuche ich, bereits bestehende Visionen
Fotos: Thomas Ferwagner nisch zu bewerten und in konstruktiven Lösungen fortzuführen. Oft werden wir auch
der Urheber – ob Architekt, Künstler oder Landschaftsplaner – aufzugreifen, tech-
hinzugezogen, um diese Konzeptionen selbst zu erbringen. Für beide Optionen sind
wir offen und bereit und lernen bei jedem Projekt dazu.
040 • AIT 12.2022