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REDINGS ESSAY

                                      TIPICO ITALIANO






                                                                Ein Essay von Dominik Reding




               M    it einer Reise nach Italien kann man nichts falsch machen. Käme man am Flug-  eher ein Portal, vier Stockwerke hoch, rundherum mit Marmo nero umfasst. Was mochte
                                                                             es dahinter geben? Das Wahrheitsministerium? Eine Kirche? Cäsars Schlafzimmer oder
                    hafen an und der Verkehr staute sich bis in die Innenstadt, würde man in heimat-
               lichen Gefilden vor Zorn beben. Hier denkt man sich, na, was soll’s, das ist einfach wun-  wenigstens das Generalkonsulat einer Weltmacht? Ich ging hinein.
               derbar italienisch! Findet in der Innenstadt eine Demonstration und in der Vorstadt ein  Es war eine Bank. Innen kühle, polierte Leere, 15 Meter hoch, 30 Meter breit. Bankschal-
               Streik statt und kein Taxi und keine U-Bahn fährt zum Hotel, sagt man zu sich: ach, was  ter aus Carrara-Marmor, eine Milchglasdecke, ein Mosaik in Gold und Rot, „Fortuna und
               für ein schönes, typisch italienisches Erlebnis! Das Hotel im Umbau? Das Restaurant im  ihr Füllhorn“, und, wie so oft in Italien, vom Türgriff bis zur Lampenfassung makellose
               Erdgeschoss geschlossen? Auf den Mülleimern im Hof miauen nachts fünf Katzen? Ah,  Baudetails. Nur wenige Kunden warteten vor den Schaltern, EC-Automaten und LED-
               herrlich, das ist Italien! Vielleicht ist es falsch, vielleicht sollte man korrekter ausrufen:  Screens mit den Börsendaten. Leise Gespräche, das Knacken und Knistern der Compu-
               oh, es ist schön europäisch; oder: oh, wie schön divers; oder: oh, das gibt es aber alles  ter-Tastaturen. Und dann, in die weiche, fast sakrale Stille hinein, ein Ausruf, dissonant
               auch zu Hause. Aber man ruft, denkt, fühlt: oh, wie schön italienisch! Das Goethe-Institut  wie ein Schrei: „Dio mi aiuti!“ Dann ein Wortschwall, laut und wütend. „Blocchi il suo
               in Mailand zeigte einen Kinofilm von mir, ich sollte dazu etwas sagen, es gab extra eine  conto! Lui ha rubato tutto, tutti i nostri soldi, li ha ritirati dalla banca ed e´ scappato! Una
               Pressekonferenz und sie luden mich ein, das war sehr freundlich, das war sehr nett.  canaglia, un impostore, lui l’ha ingannata!“ Eine alte Dame, typisch italienisch in ihrem
               Auf der Autostrada vom Malpensa-Flughafen gab es kein Durchkommen, verstopft bis  schwarzen Kunstpelzmantel, der großen, modischen Brille, der schwarzen Lackhandta-
               hinein in die City, und eine politische Versammlung der Cinque-Stelle-Bewegung blo -  sche, den weißen, wohlfrisierten Haaren, stand vor einem der Bankschalter und schlug
               ckierte den Innenstadtring. Als ich das Istituto Goethe endlich erreichte, war die Presse-  mit ihren kleinen, runzligen Fäusten auf die Marmorplatte. „Le ha promesso il suo amore,
               konferenz seit zwei Stunden vorbei. Aber man schimpfte nur ein bisschen, gab mir Kaf-  e poi l’ha cacciata. La mia povera amata figlia!“ Eine junge, blonde, blasse Frau stand
               fee und Kekse, zeigte mir das Hotel und überließ mich dann mir selbst. Der Himmel war  neben ihr, hielt sie am Pelzärmel fest. Die alte Dame starrte auf den jugendlichen Bank-
               grau, das Wetter kühl, es nieselte. Schnell auf einen Espresso in das nächste Stehcafé,  berater, schwankte beim Sprechen hin und her, ein Packen Prospekte für Immobilien-In-
               das dort, für Nordeuropäer etwas irreführend,                                           vestments fiel zu Boden. Die Kunden verstumm-
               Bar heißt und ganz und gar nichts Schummriges                                           ten, schauten erschrocken wie ich. „Gli tolga su-
               hat: große Fenster, Terrazzoboden, Neonschrift-                                         bito il denaro, per favore, per favore, la supplico!
               züge, Chromleisten, Tresen und Schränke aus                                             Che Dio ci aiuti!“ Ich sammelte die Sprachfetzen,
               Esche und geschliffenem Glas; der Geruch von                                            Gesten, Gesichtsausdrücke, überlegte, deutete,
               starkem Kaffee, süßem Amaretto und frischer                                             montierte: Die alte Dame hatte ihr Geld verloren,
               Eiscreme; die alten Herren an den Stehtischen,                                          gewiss. Ihre „soldi“, den Sold, ihr Erspartes. Von
               mit Hut und Anzug, würdevoll, ohne Spießig-                                             Nullzinsen und Bankenspekulation verschlun-
               keit; die älteren Damen in schwarzen Mänteln,                                           gen. Nun war sie „povera“, arm, eine Verliererin
               mit großem Schmuck und großen Brillen, bür-                                             der Globalisierung, der Börsenrekorde, der freien
               gerlich, aber weltgewandt. Ah, wie wunderbar                                            Märkte. „Lui le ruberà tutti i soldi, lui la deru-
               italienisch  oder,  längst  hatte  der  singende                                        berà, lui ci rovinerà. Maledetto ladro scellerato!
               Sprachklang mich erfasst, tipico italiano! Mai-                                         In nome di Dio!“ Ja, „ruberà“, beraubt worden
               land ist kein Hipster-Hotspot, kein Berlin, kein                                        war sie und dafür durfte die alte Dame nun auf
               Reykjavík, kein Ho-Chi-Minh-Stadt. Vergangener                                          den polierten Schalter trommeln und die male-
               dadurch, unveränderter, und für mich, den Tou-                                          deiten Banken beschimpfen. Und noch mehr. „In
               risten, noch italienischer! Dabei sagen sie hier                                        nome di Dio!“, in Gottes Namen verfluchen, die
               Mailand sei eine città tedesca, quasi eine deut-                                        Banken, für die Vernichtung der kleinen Sparer,
               sche Stadt, so pünktlich, ordentlich, so unspek-                                        für das Spekulieren auf Lebensmittelpreise, für
               takulär, winterkalt und arbeitsam. Nach der Bar                                         das Wetten auf Inflationen, Firmenpleiten, auf
               ein Gang über die Piazza del Duomo mit ihrer Foto: Benjamin Reding                      die  Auslöschung  Hunderttausender  Arbeits-
               unerbittlichen  Größe,  die  den  Dom  so  klein                                        plätze. Sie reckte sich, hob die Arme, zitterte. Jetzt
               macht; durch die Galleria Vittorio Emanuele,                                            endlich schien der Raum, diese leere Marmor-
               frisch restauriert, glatt-glänzend, vorbei an den immer perfekt gestalteten Schaufenstern  halle mit ihrer Mausoleumsoptik, seine tatsächliche Bestimmung gefunden zu haben. Als
               des Kaufhauses La Rinascente; dann die öde Scala-Fassade, die wie ein loyaler Butler  Anklagebank, als Richtplatz, als Rednertribüne, wie die Rostra im antiken Rom, auf der
               nach außen nicht verrät, welche Emotionen im Inneren toben; und noch ein kurzer Blick  der Plebs wie die Cäsaren ihre Absichten herausbrüllten. Sie würde sich auf ihre Zehen-
               auf das Pirelli-Hochhaus, dieses Fünfzigerjahre-Flurschränkchen, das ein geheimnisvol-  spitzen stellen, die Faust recken und schreien, toben, weinen, bis die Welt hört, aufsteht,
               ler Pinocchio-Zauber in einen Wolkenkratzer verwandelt hat. Dann bog ich ab, in die  handelt. „Mi aiuti! Mi aiuti!“ Zwei Sicherheitsleute kamen auf sie zu, mit breiten Schul-
               breiten Straßen links und rechts des Doms, die kaum ein Architekturführer erwähnt, in  tern, strengem Blick, die Hände in Lederhandschuhen; aber es war dann die blonde Frau,
               den 1930er- und 1940er-Jahren von „Il Duce ha sempre ragione“, dem immer recht ha-  die auf die alte Dame einredete, sie beruhigte, sie schließlich unterhakte und hinaus-
               benden Führer mit imperialer Gewalt in den Körper der alte Stadt geschnitten. Die Neu-  führte „Die hat’s euch gegeben!“ Der junge Mann hinter dem Schalter schaute mich an,
               bauten von damals an den zu weiten Straßen, zu großen Plätzen, zu wuchtigen Kreuzun-  lächelte. „Scusi?“ Ich erklärte nun auf Englisch, dass die alte Dame das Bankenwesen so
               gen: eine Ansammlung von Bögen, Toren, Säulen, Architraven und Pilastern, so antisep-  heftig kritisiert habe. Er schüttelte den Kopf. Nein, die Dame habe das Konto ihrer Tochter
               tisch und todernst, wie herauskopiert aus einem Buch über die Darstellung geometri-  sperren lassen. Ihr Verlobter habe sie betrogen und sich davongemacht und plündere
               scher Körper zur korrekten Berechnung von Schattenkonstruktionen. Kolosseums-Zitate  nun weiter das Konto der Betrogenen. Mehr nicht! Er schob die zerstreuten Prospekte zu-
               für Kioske, Thermen-Marmor für Fischgeschäfte, Tempelsäulen für Postfilialen! Instant-  sammen und setzte, fast entschuldigend, hinzu: „tipico italiano!“ Ich gebe zu, ein biss-
               Antike, marmorblockschwer und inhaltsschwach! Vor einer Tür blieb ich stehen. Es ist  chen war ich enttäuscht. Ich hätte es mir – ausnahmsweise – einmal anders gewünscht.

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