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REDINGS  ESSAY



                                     ARCHITEKTUR IST.







                                                                Ein Essay von Dominik Reding






               A   rchitektur ist etwas Schreckliches.“ Wenzel lehnte sich gegen das Betongeländer, star-  neben mir, schien zu dösen, er starrte aus dem Fenster auf den Feierabend verkehr in der
                                                                             Dämmerung, auf die Auffahrt zur Autobahn, auf die Licht schlieren der Scheinwerfer. „Ich
                   rte auf ein Wohnhochhaus, das aussah wie ein Arc de Triomphe aus nachlässig
               zusammengefügten Betonfertigteilen. „Noch so eine Hochhaussiedlung und ich muss  höre auf. Nach den Semesterferien ist Schluss.“ Er sagte es leise, zu sich. „Womit?“. Ich
               kotzen.“ Es klang ziemlich glaubwürdig. Er beließ es bei der Ankündigung. „Alle zurück  hatte nicht richtig zugehört, mir eine Decke und ein Buch für die Nachtfahrt zurechtgelegt.
               zum Bus. Die nächste Hochhaussiedlung ist die Cité des Tours Aillaud.“ Professor Marg rief  „Womit ist Schluss?“ Er zögerte, schaute aus dem Bus fenster, dann sagte er: „Nix ... schlaf
               es in seinem immer festen, energiegeladenen Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass der  gut.“ Ich wusste nichts vom Barock; wusste nichts von fränkischen Kleinstädten, nichts von
               Sprechende in der Lage war, Bahnhöfe, Stadien, Flughäfen, ja ganze Städte zu planen und  Fürstbischöfen und ihren Gärten und Sommerresidenzen; wusste nichts von der marmor-
               zu bauen, ja, dass ihm ein einziger Spaten reichen würde, um eine neue, viel bessere  nen Kühle fränkischer Stadtkirchen, nichts von der steinernen Wärme verfallener Festungs -
               Hochhausstadt zu errichten. Wenzel schüttelte den Kopf und kletterte als Letzter in den  mauern, nichts von der behäbigen Würde barocker Bürgerhäuser, nichts von Marien -
               Bus. Es war das zweite Land und die dritte Hochhaussiedlung heute und das vierte Land  figuren an Hausfassaden, nichts vom Duft alter Obstbaumalleen, nichts von Orangerien,
               und die sechste Hochhaussiedlung, seit wir losgefahren waren. Wenzel setzte sich auf den  Buchsbaumhecken, knirschenden Kieswegen, stoisch lächelnden Sandsteinputten. Dann
               Platz neben mich, was mir nicht gefiel. Wenzel war eigen. Wenzel von der Eulenburg.  kam Eichstätt. Noch nachts im Bus hatte Herr Marg es angekündigt: „Morgen besuchen
               Schon der Name klang ausgedacht, wie ein Literaten-Pseudonym. Wenzel trug stets einen  wir Eichstätt und den Diözesanbaumeister Karljosef Schattner in seinem Bauamt.“ Und
               Janker, so einen, wie ihn vielleicht die Gebirgsjäger in Oberammergau zum Oktoberfest  Wenzel hatte: „Bauen und Amt? So ist das also ...“, gegrummelt und sich die Decke über
               anziehen, und eine Nickelbrille mit Fensterglas. Er hatte dünne, lange, braune Haare, die  den Kopf gezogen. Unter dem Dach seines Bauamtsbaus residierten der Architekt und sein
               ihm wie eine Gar dine ins Gesicht hingen, sehr                                           Team. Ein barocker Bürgerbau, massig und ge -
               sommersprossige, sehr weißliche Haut und zwei                                            mütlich, mit  verschnörkelter Putzfassade und
               kleine, kritisch dreinblickende Augen. Es hieß,                                          einer von Herrn Schattner entworfenen, in die
               er höre bei der Arbeit ausschließlich Mozart                                             alte Fassade gebrochenen Eingangstür. Wie aus
               oder Heavy Metal. Man hätte sich gerne über                                              einem einzigen Block Marmor gehauen sah sie
               ihn amüsiert, aber er war zu klug, zu begabt, um                                         aus, sicher in der Proportion, makellos in der
               ihn einfach  wegzulachen.  Seine Entwürfe                                                handwerklichen Ausführung. „Wow“, rief ich
               gehörten  zu den un bau barsten, utopischsten                                            und linste zu Wenzel herüber, ob sie ihm wohl
               und besten des Semes ters: Eine Wohnsiedlung                                             auch gefiel. Er betrachtete die Tür, lange, aber
               sollte mit einem Schie nenzeppelin erschlossen,                                          zeichnen tat er sie nicht. Architekt Schattner war
               ein Opernhaus mit He lium ballons in der Luft                                            entstellt. Eine Brandverletzung aus dem Zweiten
               verankert werden. Aber was er noch besser kon-                                           Weltkrieg. Wir wussten nicht recht, wo wir hin-
               nte als Entwerfen,  war das  Zeichnen. Immer                                             blicken  sollten.  Sicher  kannte  Herr  Schattner
               hatte er einen Skizzen block dabei und entdeckte                                         das. Nur  Wenzel schaute ihn ruhig an. Herr
               er Architektur, die ihn überzeugte, tanzte der                                           Schattner sprach von den Bauten in Eichstätt,
               Bleistift über die Sei ten. So hatte er es auf unser-                                    alten und neuen, und erst am Schluss dann
               er Architektur-Exkur sion in Brüssel getan,  vor                                         auch von seinen eigenen Entwürfen. Leise er -
               dem jugendstiligen Palais Stoclet, und zuvor in                                          zählte er von seiner Arbeit, es klang nicht zu -
               Barcelona, vor der Sagrada Família mit ihrem                                             packend, nicht gewiss, sondern zögerlich, tas-
               wildwuchernden Wahn sinn. Und dort besucht-                                              tend, unfertig, suchend. Dann, es dämmerte
               en  wir auch die erste Hochhaussiedlung, am  Foto: Benjamin Reding                       schon, gingen wir essen. Herr Marg lud ein. Er
               Stadtrand, hart hin ein gestellt in die karstige                                         lachte, scherzte, empfahl uns gebackenen
               Landschaft. Strenge Geometrie in schalungs -                                             Karpfen mit Spargelsalat und dazu einen „Som -
               rauem Beton, mit „Sky walks“ in den oberen Etagen, wilden Zickzack-Treppen vor den  meracher Katzenkopf“ als Wein. Er lobte die Baudetails seines Eichstätter Kollegen, dann
               Eingängen und frei stehenden Fahrstuhltürmen. Architektur mit Anspruch, spanische  sprach er über eigene Projekte. Stadien, Stadthallen, Kraftwerke. Bei einem seiner Scherze
               „Grandezza“. „Kraftvoll!“, sagte ich. Aber  wenn man näher kam, roch es in den  reckte ich mich, denn ich dachte und hoffte, er habe zu mir herübergeschaut, und da
               Treppenhäusern nach Urin und in den Fahrstuhlfluren kündeten Brandspuren  von  bemerkte ich erst, dass der Platz neben mir leer war, dass Wenzel fehlte. Nun, was sollte
               nächtlichem  Zündeln.  Wenzel hockte auf den  Treppenstufen, rauchte, spielte mit  schon sein? Bestimmt war er auf dem Klo oder eine rauchen. Aber er kam nicht wieder.
               Herbstlaub, zeichnete nichts. Und jetzt Paris! Auf einem Parkplatz hinter dem Boulevard  Ich stand auf und ging ihn suchen. Still war jetzt die kleine Stadt. Das Echo der eigenen
               Périphérique kletterten wir aus dem Bus. Die Tours Aillaud waren rund, ihre Fassaden  Schritte lauter als das ferne Brunnenrauschen aus den Gärten. Ich schaute an der Stadt -
               bunt und die Fenster tropfenförmig. Aber in den Fluren roch es nach Urin und an den  kirche, aber ihre Türen waren verschlossen; ich schaute im Park, aber sah nur die Baum -
               Wänden klebten Brandspuren wie in Barcelona. Wenzel stand, die Hände tief in den  wipfel, die der Herbstwind schüttelte. Mir wurde bang, ich hörte meinen schnellen Atem.
               Jackentaschen, und zeichnete nichts. Später im Bus lobte Herr Marg die Zeichenhaftigkeit  Oder war es etwas anderes? Ein Geräusch, wie ein fernes, feines Kratzen? Ich beeilte mich,
               der  Türme, die gute Anbindung an den Nahverkehr, kritisierte die problematische  ich lief und stoppte: Auf dem Platz vor dem Bauamt stand Wenzel. Er skizzierte das Türge -
               Erschließung, die schwierigen, für die Großform in Kauf genommenen Grundrisse, sprach  wände, das aussah, als sei es aus einem einzigen Block Marmor herausgeschlagen. Sein
               von den  Verkehrswegen, Bruttogeschossflächen, Bausummen und resümierte:  Bleistift tanzte über die Seiten und er murmelte, leise, aber fest: „Architektur ist etwas
               „Architektur ist immer auch die Kunst des Machbaren.“ Ich nickte. Wenzel, auf dem Sitz  Wunderbares.“ Tief atmete ich aus und machte mir um seine Zukunft keine Sorgen mehr.


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