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Redings Essay

               INVASION AUS DEM ALL














               Ein Essay von Dominik Reding
               I  ch wollte davon berichten. Aber ich durfte nicht. Nun ist es verjährt. Juristisch verjährt.  100 Dübel, fünf Rinderhirne, frisch.“ „So menschenähnlich. Schön glibberig“, erklärte der
                                                                             „Chef“. Die Dübel bekam ich im Baumarkt, den Silberstoff bei einer Schneiderin. Und die
                 Jetzt darf ich: Jeden Tag kam ich an der Bankfiliale vorbei. Zwei Wochen lang. Am Bahn -
               hof Hamburg-Sternschanze. Umsteigen in die S-Bahn nach Hamburg-Rahlstedt. Morgens  Rinderhirne? Ich fragte im Fleischerladen. Kopfschütteln. „Sowas will doch keiner mehr.
               um acht, abends nach 22 Uhr. Eine kleine Bankfiliale, schon ein bisschen aus der Zeit  Versuchen Sie es mal beim Schlachthof.“ „Rinderhirne sind alle. Aber Schweinehirne
               gefallen. Graue Kacheln und Schaufenster mit Goldrahmen. Nur die Reklamen waren up-  kannst du haben.“ Der Schlachter öffnete die Kühlraumtür. „Und was kostet das?“ Er
               to-date: „Hohe Renditen auch in volatilen Börsenzeiten! Unser Premium-Aktiendepot mit  grins te und packte einen Berg davon in eine Plastiktüte: „Nix.“
               Pauschalvergütung!“ Das hätte ich gebraucht. Pauschalvergütung. Als Zuschuss zu meinem  „Und Action!“ Die erste Szene war ganz einfach. Der japanische Darsteller sollte als korea -
               Abschlussfilm an der Kunsthochschule. Dreharbeiten sind so teuer. Aber ich hatte kein  nischer Astronaut mit einem Skalpell die „Alien-Hirnmasse“ zerteilen. So stand es im
               „Depot mit Pauschalvergütung“. Ich hatte nichts. Und deshalb saß ich in der S-Bahn nach  Dreh  buch. „Take one! “, brüllte der „Chef“. Der japanische Darsteller steckte das Skalpell
               Rahlstedt. Am Ziel meiner Fahrt roch es nach Plastikkleber, nach heißen Scheinwerfern,  in das Zeug vor sich, das entfernt an verschrumpelten Blumenkohl erinnerte. „Aus! Das
               nach frischer Farbe und schwerer Arbeit. Hier am Stadtrand, im Seitentrakt einer Groß -  Licht ist nicht gut“, rief der Kameramann. Das Licht wurde geändert. „Take two!“ Dann
               druckerei werkelten wir: ich und die anderen Hoffnungsvollen. Der frisch in Betriebs -  wackelte der Tisch. „Take three!“ Das Mikrophon war im Bild. „Take four!“ Das Skalpell
               wirtschaftslehre diplomierte Sohn des Druckereibesitzers drehte Filme, privat, zum Ver -  fiel hin. „Take five!“ Bei Take 22 gab es die erste Pause. Ich griff zum Hirnmasse-Teller.
               gnügen und für Ruhm und Ehre und den Traum von Hollywood. Und sein Vater sponserte  Endlich in den Kühlschrank damit. „Haaalt!“ Ich blieb stehen. „Das hat doch Anschluss!
               das und ab und an auch die Abschlussfilme unserer Filmklasse. Deshalb half ich mit. Alle  Niemand fasst den Teller an! Bis alles abgedreht ist!“ Aber es war auch nach vier Tagen
               halfen deshalb mit. Es sollte ein Zukunftsfilm werden: „Invasion aus dem All“. Mit einer  noch nicht abgedreht. Erst roch es nur ein biss chen wie alte Leberwurst. Am zweiten Tag
               Raumschiffkommandokanzel als Drehort. Wichtig                                           müffelte das ganze Studio danach, am dritten Tag
               war dem jungen Filmemacher ein leuchtender                                              löste der Geruch Würgereflexe aus. Wir kämpften,
               Fuß boden. „Wie im Film Alien“, erklärte er. Leuch -                                    wir dachten an das Sponsoring, wir unterdrück-
               tender Fußboden. Das sagt sich so leicht. Für uns                                       ten die Reflexe. Auch der Japaner. Mit seinem
               Helfer hieß das, auf dem Betonboden der Halle                                           Skalpell stocherte er wieder und wieder in der
               kriechend, 500 Holzstempel  zu  verankern, 200                                          grünlichen Masse. Stoisch. Wie es vielleicht nur
               Lochgitter zuzuschneiden und 600 Neonröhren zu                                          Japaner können. Mir tropfte kalter Schweiß von
               verkabeln. Natürlich geriet der  Zeitplan schon                                         der Stirn. Nur nicht dran denken, nur nicht dran
               nach wenigen Tagen aus den hektisch verleimten                                          denken. Spät abends wieder umsteigen an der
               Fugen. „Kennst du  wen, der noch mithelfen                                              Sternschanze. Ich atmete und atmete. Frische
               kann?“, fragte mich der junge Filmemacher. Und                                          Luft, so ein Luxus. Ich ging in ein Café. Ein Tisch
               setzte im Flüsterton nach: „Dem zahl ich auch was                                       war noch frei. Trank eine Cola, schlief im Sitzen
               dafür.“ Ich überlegte, ich grübelte. Ja, ich kannte                                     ein. Und wachte wieder auf. Gerenne, Blaulicht,
               da jemanden: Das Haus stand nicht weit von der                                          Geschrei. Ein Demonstrationszug quetschte sich
               Ree perbahn. Einer dieser Altbauten, auf die Inves -                                    die enge Straße entlang. „Stoppt den Mietwahn -
               toren scharf sind. Billig kaufen, entmieten, leer ste-                                  sinn!“ Und mittendrin Zorroo mit zwei O. Er rann -
               hen lassen, mit Gewinn weiterverkaufen. Es gab                                          te nicht, er schrie nicht. Er stand da, rauchte, ge -
               keine Eingangstür und keine Fensterscheiben                                             nussvoll, und jonglierte mit Bällen. Dann kam die
               mehr, aber noch eine Treppe. Krumm und schief                                           Polizei. Mit Tränengas und Wasserwerfern. Jetzt
               wie in einem Tiroler Bauernhaus. Die Stromkabel  Foto: Benjamin Reding                  wurden die Tische frei. Die Gäste verließen das
               waren geklaut, die Wohnungstüren vermauert. Bis                                         Ca fé. Und dann waren die Tische weg, als Teil von
               auf eine, ganz oben im Dach. Den Himmel konnte                                          Barrikaden. Steine flogen, Molotow-Cocktails
               man sehen. Blau und winterklar. Weil die Dachpfannen fehlten. Und darunter lag, ein-  brann ten. Und die Bank, die kleine Bankfiliale an der Straßenkreuzung, geriet zwischen
               packt in fleckige Schlafsäcke, auf fleckigen Matratzen: Zorroo. „Hey cool!“ Zorroo lugte aus  die Fronten. Das erste goldgerahmte Schaufenster zerbrach, das zweite, das dritte. Und
               dem Schlafsack. „Cool, dass du vorbei schaust.“ Zorroo mit zwei O, wie er mir mal erzähl -  dann, durch die dichten Tränengasschwaden, schien es mir, als sähe ich Zorroo, wie er
               te. „Das zweite O wurde mir zum Geburtstag geschenkt“. Das Haus war nicht besetzt. Ein  durch das zerbrochene Schaufenster in die Bank kletterte. „Wrrrommm!“ Ein Wasser -
               Ruine besetzt man nicht, schon gar nicht im Winter, bei minus acht Grad. Er wohnte ein-  werferstrahl traf die Frontscheibe des Cafés. Ich bekam Angst, ich haute ab.
               fach so da. Weil’s keine Miete kos te te und auch die Polizei nicht vorbeikam, jedenfalls  Nachts klingelte mein Telefon. Anruf vom „Chef“. Der Japaner sei erkrankt. Der Dreh würde
               nicht so oft. „Willst du ein bisschen Geld verdienen?“ Aus den Schlafsäcken kam ein  sicher wieder aufgenommen. Ganz bald. „Und unser Sponsoring, würden wir das trotz-
               freund liches Grummeln. „Wände  strei chen, Bodenplatten  verlegen?“ Aus den Schlaf -  dem ...?“ Aber da war das Gespräch schon beendet. Im Frühling, die Luft wehte warm und
               säcken kam ein unentschiedenes Brummen. „Immer von morgens acht bis abends zehn.“  duftete, ohne meinen Abschlussfilm hatte ich viel Zeit, traf ich Zorroo wieder. In einem
               Aus den Schlafsäcken kam ein freudloses „Uh ...“. Dann nichts mehr. Ich legte die Filme -  Park, nicht weit von der abgerissenen Bankfiliale entfernt. Er hockte im Gras, rauchte,
               macher-Business-Card neben die Matratzen und schlich über die vereisten Dielen hinaus.  jonglierte mit Bällen. „Sag mal, Zorroo, mit dieser Bank, da hast du nix mit zu tun, oder?“
               Natürlich kam er nicht. Aber der erste Dar steller traf ein, ein Japaner, von dem der junge  Er schaute mich an, überlegte, sehr ernsthaft, mit gerunzelter Stirn. „Den Tresor hab ich
               Filmemacher sagte, er sei in Japan ein Star. Und der junge Filmemacher ließ sich jetzt  nicht gefunden. Aber eine Flasche  Whiskey im Schreibtisch  vom Direktor. Und sechs
               „Chef“ nennen und ich bekam eine Liste: „Zu erledigen: Silberstoff für drei Raum anzüge,  Stangen Zigaretten.“ Er hielt mir seine Packung hin und lächelte: „Hier, willst du eine?“



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