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REDINGS ESSAY

                                                              VOR




                         SONNENUNTERGANG





                                                            Ein Essay von Dominik Reding




           W     as für ein bekloppter Tag! Gleich drei wichtige Termine, alle drei anstrengend und  und Erwartung. „Kann ich mein Handy bei Ihnen hier aufladen?“ Ein junger Soldat zeigt auf
                 mühsam und dennoch unvermeidlich. Und den letzten Termin kann ich nicht  die Steckdose neben meinem Sitz. „Ja klar!“ Damit fängt es an, das Alt-Sein, mit dem
           schaffen. Morgens Blutabnahme in Berlin, mittags Seniorenheim-Besuch in Bochum,  Gesiezt-Werden… Bald schon Hannover, ich versuche zu schlafen. Oder soll ich doch aus-
           abends dieses private Fest in einem niedersächsischen Dorf. Das wird zu knapp. Um 19 Uhr  steigen? Der Weg ins Dorf führt noch einmal in die eigene Biographie: Nach der ehemaligen
           fährt auf dem Land der letzte Bus. Dabei ist es herzlich gemeint, Einladung einer Kreistags-  Nachbarin nun die Welt der ehemaligen Nachbarschaft mit ihren akkurat gemähten Vorgar-
           abgeordneten, sogar per Brief. Irgendetwas Privates. Konkreter wurde sie nicht. Ein bisschen  tenrasen, ihren sauber beschnittenen Cotoneasterbeeten und Ligusterhecken, ihren seriell
           klang es konspirativ. Woher kannte ich die Abgeordnete? Vielleicht durch eine Filmpremie-  „geschmiedeten“ Gittertoren und unkrautfreien Waschbetonplatten und ihren Swimming-
           re oder Filmdiskussion, einen Empfang, einen Vortrag – ganz gleich, alles längst vergessen.  pools im Hintergarten, mal Rechteck, mal Niere, mal Architekt, mal Baumarkt, aber alle-
           Sicher kaum mehr als ein abgelenktes Gespräch, ein Gesicht in der Menge, zwischen Häpp-  samt: nie genutzt. Ja, ich bin in Hannover aus- und zum obskuren Fest umgestiegen. Natür-
           chen und Sektglas und tatsächlichen und selbsternannten Prominenten. Sie wird traurig  lich, es fährt kein Bus mehr. Also vier Kilometer zu Fuß. Ich werde eh zu spät kommen, was
           sein, wenn ich nicht komme … Was für ein bekloppter Tag. Acht Uhr, der Arzttermin. Routi-  soll’s. Vorbei am endlosen Band der Eigenheime. Ich hatte einmal Zorn auf diese „spießigen
           ne. Nicht die Praxis, die hat neu eröffnet, im edlen Prenzlauer Berg. Der Empfangstresen:  Idyllen“, auf ihre verlogene Sauberkeit. Ungestümen, jugendlichen Zorn. Jetzt, in der sanft-
           hinterleuchteter Onyx, die Wartezimmersitze: „Nonstop“-Sofa von De Sede, die Wände:  warmen Dämmerung, umgeben vom Duft der Buchsbaumhecken und Oleanderbüsche –
           gewachstes Eschenholz, die Lampen: Tom Dixon, dazu Lavendelduft und leise Back-  ja, ich gebe es zu – gefällt mir plötzlich diese brave Biederkeit, und sei sie nur gespielt. Am
           ground-Musik von Bach, Sinfonie in G-Dur. Aber sonst: doch Routine. Das endlose Warten,  Ende meiner kleinen Reise, zurück am Hermannplatz in Neukölln, wird mir wieder der dort
           das Stochern in der Armbeuge, die Schwester findet die Vene nicht, „dabei ist das sonst  Alltag gewordene Krawall begegnen. Hier aber ist Frieden. Vielleicht auch ein erstes Zeichen
           ganz leicht, in ihrem Alter“, die leichte Übelkeit danach. Der Zug nach Bochum fährt – aus-  des Alters, der Wille zur Versöhnung. „Friday night and the lights are low, looking out for a
           nahmsweise – pünktlich, daher nun ohne mich. Immerhin, der erste Termin ist geschafft.  place to goooo…“  Übertreibt es jetzt mein Hirn mit der Nachbarschaftszeitreise, oder
           Der nächste ICE ins Ruhrgebiet hat dann – natürlich – eine Stunde Verspätung. Erst am  wehen hier wirklich Musikfetzen von ABBAs „Dancing Queen“ über die Straße? Ich verglei-
           Nachmittag stehe ich in Bochum vor dem Seniorenheim. „Nein, sowas ...! Dominik! Du hast  che die Hausnummer mit der Einladung. Doch, hier ist es! „Oh, wie schön, dass Sie gekom-
           doch so viel zu tun. Was für eine Überraschung!“ Die betagte, fragile Dame versucht, sich  men sind!“ Die Kreistagsabgeordnete erkennt mich, ich sie erst nicht. „Extra aus Berlin
           aufzurichten, bricht den Versuch ab, lächelt dann bemüht fröhlich. Sie     angereist?“ Ich nicke, „Ja, es ist auch ein ganz besonderes Fest!“ Auf
           sitzt im Rollstuhl, seit einem Sturz in ihrem Garten, bis dahin war sie    der Terrasse im Hintergarten, unter dem Dach eines improvisierten
           unsere noch rüstige Nachbarin und noch davor unsere erste Grund-           Bierzeltes sitzen ihre Gäste: der Ortsverein ihrer Partei. Freundliche,
           schullehrerin. Sie galt als resolut, aber „modern“, ließ den Kindern       ältere Herrschaften, kaum jemand unter 70, die Gastgeberin ist mit
           Freiheiten, „zu viele“, wie sich einige Eltern damals beim Rektor          ihren vielleicht 50 die Jüngste. „Ja, wirklich toll, bei ihrem Ortsver-
           beschwerten. „Ich kann dir gar nichts anbieten, Abendessen war             eins-Jubiläum dabei sein zu dürfen…“ „Aber nein! Kein Jubiläum…“
           schon. Wenn du etwas trinken willst, im Gang steht immer Tee für uns       Die Kreistagsabgeordnete lächelt wissend. „Nur wir Älteren sitzen hier
           Alte.“ Sie lächelt, ohne Bitterkeit. Sie betrachtet mich, bemerkt meinen   vorne, unser Sohn ist hinten, mit seinen Kollegen!“ Ich weiß nichts,
           so alt aus, und jetzt: Rollstuhl, und da komme ich wohl auch nicht  Foto: Benjamin Reding  und sie merkt es. „Ich durfte Ihnen den Anlass nicht schreiben, dass
           Blick auf sie. „Ach, so hast du mich ja noch gar nicht gesehen, so im
                                                                                      ist bei denen nicht gestattet. Aber ich wollte unbedingt, dass Sie dabei
           Rollstuhl. Einen Rollator hatte ich ja nie, damit sieht man immer gleich
                                                                                      sind.” Sie nimmt inneren Anlauf, ihre Stimme wird dramatisch: „Unser
           mehr raus …“ Sie bietet mir einen Platz an, ich schaue mich um: Ein enges Zimmer mit  Sohn ist heute nach vier Jahren als Zimmermann auf der Walz nach Hause zurückgekehrt!
           Dusch- und WC-Zelle, wenigen Möbeln (Schrank, Tisch, zwei Stühle. Einrichtung vom Heim,  Alle seine Kumpel sind mitgekommen, 40 Wandergesellen! Und sogar vier Wandergesellin-
           robust und abwaschbar) und nur einem Fenster, nach Norden, mit Blick auf ein Hochhaus.  nen!“ Jetzt entspannt sich ihre Stimme wieder, wird betont „jugendlich“-locker: „Die sind
           An den Wänden, als einzige Deko, zwei Fotos im Rahmen: Ein junger Mann, „Den kennst  im Hintergarten, am Pool.  Da gibt es auch das Bier und Essen. Gehen Sie einfach der Musik
           du noch, meinen Nils, der war zwei Klassen über dir” und ein älterer Mann (mit Hut und  hinterher.“ Und dann, bestimmt: „Nur nicht vom Beckenrand springen, das ist verboten!“
           Hornbrille vor dem Einfamilienhaus). „Ja, mein Mann, die Brille ist ganz neu, unser schönes  Die Hitze des Tages legt sich, aber echot noch von den Hauswänden und unkrautfreien
           Haus auch.“ War ganz neu, das meint sie sicher, ihr Mann verstarb vor vielen Jahren, das  Wegplatten. Vorsichtig tappe ich durch das Grün des fremden Gartens, in angespannter
           Haus ist lange schon verkauft. Wir plaudern eine Stunde, sie sagt mehrfach, wie gut es ihr  Sorge, über eine Vogeltränke oder den Rasensprenger zu stolpern. Die Musik wird lauter,
           hier gehe, wie nett alle zu ihr seien und dass eine Pflegerin sie ab und an in die Grünanlage  nein, eigentlich sind es Stimmen, die lauthals mitsingen: „You are the Dancing Queen.
           vor dem Heim schieben würde. Dann seufzt sie: „Mein Mann, der pflegt doch noch ordent-  Young and sweet, only seventeen…“ Dann ein lautes „Platsch!“ Und noch eins, „Platsch!“
           lich den Garten, ja?“ Ich zögere mit der Antwort, sie betrachtet mich unruhig, fast angstvoll,  Und dann Gejohle, Lachen, Kreischen. Ich stehe am Pool. Wieder springt jemand vom
           dann sage ich: „Ja natürlich.“ Sie lächelt, erleichtert. Auf dem Weg zum Fahrstuhl grüble ich:  Beckenrand in das Baumarkt-Rechteck. Fast alle hier sind nackt, alle trinken Bier, alle sin-
           Wirst du auch so einmal in „dauerhaft-stationärer Pflege“ leben, auch um sieben Uhr  gen mit: „See that girl, watch that scene, dig it: the Dancing Queen…“ „Hey Dom!“ Eine
           abends ins Bett gebracht werden, in einem Heim mit Zimmern, Gängen und Fluren, die  Wandergesellin erkennt mich, winkt mir zu, „Cool, dass du hier bist!“, dann springt auch
           einer geschlossenen Psychiatrie ähneln, einer geschlossenen Psychiatrie in einem schlech-  sie ins Becken. Platsch! Ein Geselle nimmt sie hoch, trägt sie auf den Schultern durch den
           ten Film? Plötzlich fühle ich mich alt. Uralt. Draußen ist es noch taghell, ein sanfter, schmei-  Pool, durch das wogende Gedränge. Die letzten Sonnenstrahlen des Sunsets tauchen die
           chelnder Spätsommernachmittag. Für die Fahrt ins ländliche Niedersachsen ist es zu spät.  Szene in ihr sanftes, rötliches Licht, dann verdeckt die heraufziehende Nacht, freundschaft-
           Im ICE zurück nach Berlin, zusammengekauert auf meinem Sitz im tiefgekühlten Abteil,  lich-diskret, die kommenden Stunden. Einer der Zimmerer im Pool entdeckt mich, ruft mir
           sehe ich sie wieder, in Gedanken, meine Grundschullehrerin, an der Schultafel, fröhlich,  mit großer, einladender Geste zu: „Komm, spring rein!“ Und sieht mein Zögern. „Komm! Sei
           resolut, ambitioniert. Und uns, ihre sechsjährigen Schüler, sie anschauend, voller Staunen  mutig, spring! Du bist ja noch jung!” Platsch, das Wasser gluckst zu allen Seiten.

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