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                                                          REDINGS ESSAY





                 BEAUTIFULLY DIFFERENT







                                                            Ein Essay von Benjamin Reding





            D   er wacht uns ja auf!“ Ich höre es, aber weiß nicht, wer spricht. Ich sehe mich um,  kanten vorkragen, als quelle Hefe aus einem zu engen Glas. „Und strecken! Und nochmal:
                                                                          strecken!“ Der Herr im Trainingsanzug betrachtet mich mit der trüben Gewissheit, dass
                aber weiß nicht, wo ich bin. Ich will etwas sagen, aber weiß nicht, wie. Und plötz-
            lich weiß ich nicht einmal mehr, dass ich mal etwas wusste. „Schnell, noch eine Spritze!“  aus mir kein „Sportsfreund“ zu zaubern ist. Ich hänge an der Sprossenwand und soll ich
            Sagt es jemand? Ist es hier nicht sehr kalt? Warum bin ich so müde? War ich nicht gestern  mich daran hochziehen. Meine „Brustmuskulatur aufbauen“, wie der Sportsmann erklärt.
            auf einer Feier? Dann: Stille. Schwarz, tief, schwerelos. „Vier Stunden hat es gedauert...  „Das brauchen Sie, damit Sie später mit Ihren Krücken klarkommen“! Dann geht der
            bei so einem kleinen Bruch. Eine Stunde war nur veranschlagt. Sie machen Sachen.“ Sie  Sportsmann, und ich mache die Klimmzüge. Jemand beobachtet mich. Vom Eingang her.
            sprach wohl schon länger mit mir, aber erst jetzt setzt die Wahrnehmung, die Erinnerung,  Ein robuster Kerl im Rollstuhl, rechts neben den Rädern lagern Hanteln, die er – sein
            das „Ich“ wieder ein. Eine Krankenschwester schaut mich, an, ihre Stimme freundlich,  Oberköper zeigt es – oft benutzt. Er schaut ernst, verschlossen, fast grimmig. Ich höre mit
            ihr Blick zuversichtlich, mit geübten Griffen hantiert sie am Katheter. Uh, der steckt ja in  der Klimmzughampelei auf, schiebe mich mit meinem Rollstuhl auf ihn zu. Jetzt erkenne
            meiner Vene. „Wenn Sie Schmerzmittel brauchen, sagen Sie Bescheid.“ Sie lächelt, ich  ich, dass er jünger sein muss, vielleicht 20 Jahre, nicht mehr. Er sieht mich, fragt: „Wie
            nicke, sie geht. Schmerzmittel? Wofür? Ich spüre gar nichts. Aber, beruhigende Überra-  lange bist Du schon hier?“ „Nur ein paar Tage“. „Und wie lange noch?“ „Weiß nicht, zwei
            schung, ich kann meinen Kopf bewegen: Zwei tief Schlafende liegen in den Betten neben  Wochen vielleicht. Ist nur ein gebrochener Fuß.“ Plötzlich schaut er verärgert, fast zornig
            mir, an Kathetern und Schläuchen, wie ich. Ihre Gesichter sind ernst, wie nach großer, le-  und ich zweifle, ob ich noch etwas fragen soll und dann doch: „Und wie lange Du? „Ein
            bensschwerer Anstrengung. Oh, jetzt weiß ich es: Ich liege in einem Aufwachraum, ich  paar Monate, mindestens.“ Er schlägt mit einem Ruck die Decke auf  seinen Knien bei-
            hatte einen Unfall, ich bin im Krankenhaus! Die Macht der Erkenntnis reißt mich hoch  seite. Seine beiden Unterschenkel fehlen. Die Stumpen sind dick bandagiert. „War `ne
            und Schmerz drückt mich wieder zurück. Uh, der Fuß! Deshalb bin ich hier. Gestern, oder  Mutprobe, mit Kumpels ... an der S-Bahn“, er versucht ein Lächeln, „ist aber schief ge-
            vorgestern, ja wann...? Die Drehortsuche im Sauerland, das stillgelegte Freibad in Her-  gangen.“ Und tatsächlich, in seinem Gesicht, den kantigen Bewegungen, spüre ich etwas
            decke, der Zufallsbesuch beim Motorradclub, der dort fei-                         Brutales, jemand, der Streit sucht, weil er ihn gewinnt, je-
            erte. Der junge Biker im Kettenhemd mit seinem biertrin-                          denfalls gewiss vor der Mutprobe. Und weil ich das kurze
            kenden Frettchen auf der Schulter, dann der „spaßige“                             Gespräch nicht mit „Oh, wie traurig“ oder „Das ist ja blöd
            Ringkampf. Was hatte er gesagt? Kampfschwimmer sei er                             gelaufen“ enden lassen will, sage ich noch „Und was ist
            mal gewesen, beim Bund. Tatsächlich wirbelte er mich                              Dein Beruf?“ „Dachdecker, drittes Lehrjahr“, er schaut an
            herum wie einen glitschigen Aal. Etwas knirschte im Fuß,                          sich herunter, „das ist ja nun zu Ende“, und schlägt die
            jäher  Schmerz,  ich  fiel,  konnte  nicht  aufstehen.  Der                        Decke wieder zurück. „Jetzt sind Sie dran!“ Der Sportmann
            Kampfschwimmer bemerkte es gar nicht, zog lachend                                 ist zurück, sagt es mit einem Grinsen, aber es klingt wie
            davon. Und kam doch wieder, viel später, trug mich zu-                            eine Drohung, und der junge Rollstuhlfahrer packt die
            rück zum Zelt. „Kann mich vielleicht jemand zu einem Arzt                         Räder, stößt sich vorwärts, als würde er rudern, durch wid-
            ...?“ „Nein, sind alle zu betrunken ...“ Er packte mich in                        rige, stürmische See. Bei den Hanteln ist er in Sicherheit. Er
            einen offenen Transporter. „Hier hast Du Deine Ruhe!“                             stemmt sie sofort, es braucht keine Aufforderung. Als er die
            Schlaflos wurde die Nacht, der Fuß schwoll, der Schuh                              Muskeln spürt, die eigene Kraft, den Schweiß, der aus den
            musste runter, ich zog ihn über den Schmerz, danach                               Achseln rinnt, wirft er noch einen Blick zu mir herüber und
            Schüttelfrost, Übelkeit, dann Fieber, alles verschwimmt,  Foto: Benjamin Reding   nickt mir kurz zu. Er zögert erst, das Nicken kostet Überwin-
            verschmiert, zergeht, zertropft. Ohnmacht. Es duftet nach                         dung, Sicher sind für ihn hier alle Krüppel, mit ihnen zu
            Rosmarin, die Wände schimmern ockerfarben, und alle                               reden, gefährdet den eigenen Status, bedroht das Selbst-
            Fenster sind schief geschnitten. „Endlich, ich dachte schon, Sie wachen nie mehr auf.“  wertgefühl. Manchmal sehe ich ihn wieder, vor der Klinik, rauchend, immer allein, seine
            Jemand grinst mich an, ein älterer Herr. „Die haben Sie heute rübergeschoben, in die  „Kumpels“ von der Mutprobe sind nie da. Ich frage etwas Naheliegendes, ich frage ihn
            Beinchirurgie. Mensch, Sie haben ja ein riesengroßes Glück gehabt!“ „Glück ...?“ Ich höre  nach dem Dach (und hoffe insgeheim auf ein handwerklich fundiertes Verdammungsur-
            meine Stimme, das erste Mal seit ..., ja seit wann? Sie klingt kratzig, fremd. Wieder sieht  teil). Er schaut nach oben, presst die Lippen nachdenklich aufeinander, dann: „Sieht geil
            der alte Herr meine Verwunderung. „Na, dass Sie in ein anthroposophisches Kranken-  aus!“ Mein Bruder holt mich ab. Ein letzter Gang durch die angeschrägten Holztüren mit
            haus gekommen sind. Der Rudolf Steiner, der war ein Engel, ein Heiler, ein Prophet!“ Ich  ihren geschnitzten Profilen, vorbei auch am gütig dreinblickenden Schwarz-Weiß-Bild des
            nicke und betrachte meinen eingegipsten Fuß. „Splitterbruch im rechten Sprunggelenk!“  Herrn Steiner und vorbei am Abschiedsblick des jungen Dachdeckers. Der sitzt am Ein-
            Wieder bemerkt mein Bettnachbar die Verblüffung. „Vor ´ner Stunde war Visite. Aber Sie  gang und raucht und sieht mich an – ich bin schon auf Krücken – mit dem Blick eines Er-
            haben noch geschlafen.“ Jetzt dreht er sich umständlich zur Seite. „Bei mir ist es nur was  trinkenden, ohne Rettungsring. Zwei Jahre humpelte ich noch, danach waren der Bruch,
            Übliches, Oberschenkelhals, was man so kriegt ab 70 ...“ Und setzt sich eine Schlafmaske  das Krankenhaus, die nächtliche Bikerparty, der gütige Herr Steiner und seine wulstigen
            auf. „Und nicht vergessen: Morgen haben Sie Muskelkaufbautraining, ab neun Uhr“,  Dächer vergessen. Vor einigen Monaten schrieb die Stadt Berlin einen Wettbewerb aus,
            dann schon leiser „und schauen Sie sich das Haus an, vom Geist Steiners ist es durch-  für ein Kunstwerk. Thema: Inklusion. Ich beteiligte mich, entwarf ein Reihe  von Figuren
            drungen ...“ Dann schnarcht er. Bei meiner morgendlichen Rollstuhlfahrt zur Kranken-  aus Fiberglas, Porträts meiner Freunde mit „Behinderungen“. Die Skulpturen werden
            haussporthalle freue ich mich über die sanft-bunten Wände, freue mich noch mehr, dass  nachts leuchten, werden zeigen, dass „die Behinderten“ gar nicht behindert sind, werden
            sie schräg stehen – das kennt man aus anderen Krankenhäusern, mit ihren an den Weg  zeigen, wie ich sie empfinde und wie sie wirklich sind: beautifully different, auf eine wun-
            ins Jenseits gemahnenden Endlosfluren, anders – und wundere mich über die wulstigen,  derbar andere Art schön. Klar ist  die Botschaft des Kunstwerks. Es soll von allen verstan-
            mit Eternit-Schindeln verkleideten Dächer, die so seltsam grobschlächtig über die Haus-  den werden. Auch vom Dachdeckergesellen aus Herdecke. Ich hoffe, es gelingt.

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