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            GESUNDHEIT UND WELLNESS  •  HEALTH AND SPA THEORIE •  THEORY



                                                                          zum Außenraum für eine kurze Pause an der frischen Luft. Angesichts der Tatsache,
                                                                          dass die Qualität unsers Gesundheitssystems auf den Schultern von Ärzten und Ärz-
                                                                          tinnen, Krankenschwestern und Pflegern liegt, kann man sich über derartige Kondi-
                                                                          tionen nur wundern. „Licht, Grün, Rückzugsorte, Zugang zum Außenraum“ ist ein
                                                                          Mantra, das gar nicht oft genug wiederholt werden kann. Natürlich ist dieser Ansatz
                                                                          eines „healing environment“ nicht nur für das Personal relevant, sondern auch für
                                                                          Patienten und vor allem dort, wo sich Patienten länger aufhalten. Erst kürzlich
                                                                          haben wir die Reha des Unfallkrankenhauses Berlin (ukb) fertiggestellt. Dort hat
                                                                          man sich unter anderem auf das sogenannte Weaning spezialiert – die Entwöhnung
                                                                          des Patienten vom Beatmungsgerät. Natürlich konnten wir zu Baubeginn noch nicht
                                                                          wissen, welche außerordentliche Relevanz diese Station im Zuge der Corona-Pan-
                                                                          demie noch haben würde. Inzwischen ist die Station durchgängig voll belegt. Wir
                                                                          sehen, dass gerade in dieser hochgradig angstbesetzten Situation, wenn Patienten
                                                                          nach teilweise mehrwöchiger künstlicher Beatmung wieder lernen müssen, selbst-
                                                                          ständig zu atmen, eine ruhige, entspannende Atmosphäre eminent wichtig ist (Abb.
                                                                          1). Digitale Medien können einiges, aber nicht alles. Mit der notwendigen physi-
                                                                          schen Isolierung hochinfektiöser Patienten geht unweigerlich die soziale Isolierung
                                                                          einher. Das ist ein Konflikt, der bei bestem Willen nicht gelöst werden kann. Digitale
            (4) Wettbewerbsentwurf Zentralklinikum Georgsheil: Abtrennbare Infektiösbereiche für den Pandemiefall  Medien bieten hier nur einen behelfsmäßigen Ersatz, der die echte Interaktion mit
                                                                          Angehörigen nicht ersetzen kann. Eine echte Verbesserung könnte jedoch in der Er-
                                                                          mächtigung des Patienten und seiner Angehörigen über digitale Hilfsmittel liegen.
                                                                          Patient-Empowerment meint die Kontrolle des Patienten über alle Abläufe rund um
            Bereitstellen von technischem Equipment. Dennoch wird sich in der Diskussion um  den Behandlungspfad – vor, in und nach dem Krankenhausaufenthalt – und die er-
            die Lehren aus der Pandemie für die Architektur von Krankenhäusern womöglich  leichterte Kommunikation mit allen im Gesundheitswesen Beteiligten. In PRD- ("pa-
            der ein oder andere Gedanke verfestigen. Hier seien einige aufgeführt, ohne einen  tient-reported data") oder PRO-Projekten ("patient-reported outcomes") wird der Pa-
            Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen.               tient vom Leistungsempfänger zum Partner erhoben. Mobile, smarte, mit Sensoren
                                                                          ausgestattete Geräte ermöglichen es ihm, Gesundheitsdaten selbst zu erheben und
            Flexibilität und Optimierung der Triage                       weiterzuleiten. Somit können Anamnese, einfache Diagnosen und Therapien von
                                                                          zu Hause aus online selbstständig oder telemedizinisch betreut stattfinden.
            Ein Krankenhaus, welches sich flexibel an eine Krisensituation anpassen lässt, kann
            es das geben? Nur bis zu einem gewissen Grad. Ein erster Schritt wäre das Vorhalten  Krankenhäuser der Zukunft – vernetzte Systeme
            von Reserveflächen. Da dies in der Realität eines Krankenhausbetriebs ziemlich il-
            lusorisch ist, muss der Fokus auf flexibler Nutzung der vorhandenen Flächen liegen.  Im Krankenhaus der Zukunft sind wir in der Welt der Algorithmen angekommen.
            Auf Stationsebene sind Grundrisse vorzuziehen, welche die Zusammenlegung von  Alle Prozesse  – Untersuchungsabläufe, Gesundheitsdaten, Patienten- und Personal-
            Stationen beziehungsweise die flexible Zuordnung von Bettenzimmern zu der einen  ströme, Gerätenutzung und Materialströme – werden im Internet of Things (IoT) ab-
            oder der anderen Station ermöglichen (Abb. 3). Auf Raumebene sollte die Diskus-  gebildet und miteinander vernetzt sein. Zeitaufwendige und repetitive Arbeiten wie
            sion über anpassbare Bettenzimmer mehr Gewicht bekommen. In Deutschland völ-  das Messen der Temperatur werden per Sensortechnologie, zum  Beispiel integriert
            lig unüblich, wurden in den USA „acuity-adaptable patient rooms“ – also Betten-  im Patientenbett, erfasst und in der digitalen Patientenakte dargestellt. Automati-
            zimmer, die ohne baulichen Aufwand sowohl als Normalpflege- als auch als Inten-  sierte und teilautomatisierte Abläufe, etwa über intelligente Waren- oder Betten-
            siv- oder Intermediate-Care-Zimmer genutzt werden können – bereits erprobt. Was  Transportsysteme und Follow-me karts, werden sich auf alle Bewegungsströme im
            fehlt, sind belastbare Auswertungen über den betriebswirtschaftlichen Erfolg der-  Gebäude auswirken, auf Logistik, Personal, Patienten und Angehörige. Auch die Ro-
            artiger Zimmer. Ein schönes Thema für eine potenzielle Doktorarbeit! Ein weiterer  botik hat schon längst Einzug in den OP-Saal gefunden und wird zunehmend die
            Punkt ist die Optimierung der Triage. Schon heute findet die Trennung infektiöser  Pflege erobern. Ein „Hospital Cockpit“ steuert die Navigation von Personal, Patien-
            Patienten von Nicht-Infektiösen bereits am Eingang in das Krankenhaus statt. Diese  ten, Besuchern, Geräten und Material durch das Gebäude. Der kleine Roboter-Helfer
            Trennung muss dann konsequent fortgesetzt werden. Über eine separate vertikale  „Paco“ ist längst Teil unserer Präsentationen geworden. Wir werden die Präsenz von
            Erschließung müssen sowohl Intensiv- und OP-Bereich als auch ein Pflegebereich  Künstlicher Intelligenz im Krankenhaus künftig auch in Raumprogrammen und Flä-
            angebunden werden, der im Pandemiefall von anderen Stationen isoliert werden  chenermittlungen mitplanen müssen. Wir werden mit Programmen  und standardi-
            kann. Wir haben dieses Szenario in unserem Wettbewerbsentwurf für das Zentral-  sierten Raummodulen planen, die dem veränderten Platzbedarf einer maschinell
            klinikum Georgsheil durchgeplant (Abb. 4). Zum Prinzip der Infektionsprävention  unterstützten Versorgung Rechnung tragen. Bereits heute setzen sich Mediziner mit
            durch Separierung gehört auch das Prinzip Einzelzimmer. In den Niederlanden, in  Therapien auseinander, die sich KI zunutze machen, zum Beispiel in der Psychia-
            Norwegen oder Dänemark werden bereits Krankenhaus-Neubauten mit hundertpro-  trie. Die Frage ist nicht mehr die technische Machbarkeit künstlicher, selbstlernen-
            zentiger Einzelzimmerausstattung geplant. Auch in Deutschland sollte die Diskus-  der Intelligenzen. Vielmehr stellt sich die Frage, wie die Autono mie des Individu-
            sion um eine größere Ausstattung mit Einzelzimmern vorangetrieben werden. Das  ums gewahrt werden kann und ob KI die Normen der Ethik und der Ästhetik erler-
            bezieht sich nicht nur auf den Pandemiefall, sondern wäre offensichtlich auch eine  nen kann (Abb. 5). Manch ein Architekt mag sich derzeit, wie der ein oder andere
            effiziente Maßnahme zur Vermeidung von nosokomialen Infektionen, also solchen  Mediziner auch, von der rapiden Entwicklung der Digitalisierung überrollt fühlen.
            Infektionen, die erst im Krankenhaus oder Pflegeheim erworben werden.  Halt gibt der Gedanke, dass diese Krankenhäuser der Zukunft nicht für Pflege-Robo-
                                                                          ter und selbstfahrende Betten gebaut werden, sondern immer noch  für Menschen,
            Healing environment und Digitalisierung                       die darin arbeiten und genesen. Architektur kann ihnen in der virtuellen Welt ganz
                                                                          analog Halt und Sicherheit geben. Vor rund 150 Jahren war es die Tuberkulose, die
            Die Fernsehberichte aus den Stationen haben vorgeführt, unter welch ungünstigen  Architekten vor die Herausforderung stellte, eine optimierte Bauform zur Genesung
            räumlichen  Bedingungen  das  Krankenhauspersonal  teilweise  arbeiten  muss.  der Lungenkranken zu schaffen. Hervorgegangen ist daraus der Bautyp der Lungen-
            Schlecht belichtete Flure und Arbeitsräume, mangelnder Raum für Rückzug oder  heilstätten. Wir können davon ausgehen, dass auch das Coronavir us seine Spuren
            Privatheit, um von der belastenden Arbeit Abstand zu gewinnen, fehlender Zugang  in der Gesundheitslandschaft hinterlassen wird.

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