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REDINGS ESSAY
DAS GESPRÄCH
Ein Essay von Dominik Reding
E s sollte ein Dokumentarfilm für ARTE werden. Arbeitstitel: „Glücklich im Beton“. Über rief ich, „erinnert an Mendelsohn!“ „Ja, der ist mein Vorbild.“Er schloss die Mappe und
die verpönten Bürobauten der 1970er-Jahre: Wabendecken, schalungsraue Eingangs-
seufzte. Natürlich wusste er um die harsche Kritik an derlei Großprojekten. Und dann, als
hallen, Großraumbüros. Vergessen und verdrängt, verschwunden auch aus den Medien, mache er sich selbst Mut: „In den 20er-Jahren haben sie die Autobahnüberbauung erdacht,
und wenn gezeigt, dann als abschreckendes Beispiel. Wie ihre Architekten. Das wollten wir aber ich habe sie wirklich gebaut.“ Er lächelte, verschmitzt, als habe er etwas Verbotenes,
ändern. Wir sahen in diesen Bauten etwas, eine Wucht, einen radikalen Gestaltungswillen, aber wunderbar Übermütiges getan. Fast wollte ich schon, wie beim Spielfilm-Dreh,
einen Mut zum Neuen. Im Nachgang der Mondladung sollte, ja musste es auch auf Erden „Danke“ rufen, so gelungen schien mir der Satz als Schlusswort, aber ach, hier saß mir ja
„modern“ zugehen, übermenschlich, perfekt und unerbittlich wie eine Saturn-5-Rakete. ein Zeitzeuge des Berlin der Weimarer Republik gegenüber, und über seine Biografie be-
Wir recherchierten nach den Architekten, schrieben Briefe, erläuterten unser Projekt. Ab- richteten die Lexika nicht viel. „Bruno Taut. In einer seiner Siedlungen haben wir gewohnt.
strakte Namen aus den Architekturlexika: Schliephacke, Hänska, Pysall. Wer mochten die Meine Eltern, mein Bruder und ich. Mein Vater war Wettbewerbszeichner für die damals
Menschen hinter den „brutalen“ Betonbauten jener Jahre sein? Der Gigantomanie erlegene erfolgreichen Architekturbüros. Diese großen Kohlezeichnungen, mit viel Licht und Schatten,
Fantasten, realitätsferne Träumer oder gar Zyniker, die für die Durchsetzung ihrer rigiden pastosem Himmel, das konnten selbst die Chefs nicht.“ Seine Erzählung stockte, er betrach-
Ästhetik die Nutzer bewusst missachteten? Antworten kamen nicht viele. Natürlich, einige tete, die Gedanken an anderer, ferner Stelle, die Projektmappen. „Ab ´33 gab es aber keine
Protagonisten waren verstorben, einige auch zu alt, um noch reagieren zu können. Aber Aufträge mehr.“ Ich nickte. „Ah, wegen der Wirtschaftskrise“. „Nein...“, er zögerte, dann:
vielleicht herrschte unter den Schweigenden auch eine Erschöpfung, sich noch einmal zu „Nach den neuen Rassegesetzen war ich Halbjude, ich musste von der Schule... die V2
den im öffentlichen Diskurs als gescheitert gebrandmarkten Projekten äußern zu müssen. haben wir gebaut... ein Außenlager von Dora-Mittelbau.“ Er schaute durch die großen Fen-
„Guten Tag, Sie wollen also einen Film über meine Bürogebäude drehen?“ Ein Berliner Ar- ster in den Garten, auf die schon herbstlich entlaubten Baumkronen. Eine Anspannung,
chitekt meldete sich, wir hatten mit ihm nicht gerechnet, er gehörte zu den meistpublizier- eine Konzentration auf die Erinnerung wurde spürbar. „Ich kam in ein Lager, mein Bruder
ten Baumeistern der 1960er-, 70er-Jahre, seine Werke füllten die Fachbücher: Fabriken, wurde von mir getrennt.“ Er brauchte Zeit, den Satz zu beenden. „Er kam nicht zurück.“ Ein
Wohnbauten, Sozialsiedlungen, Bürogebäude ... ein üppiges Œvre, darunter sogar eine Au- Abgrund. Die ganze Umgebung, das Büro, die Mappen, meine Fragen, das „Evangelische
tobahnüberbauung und das „Evangelische Konsortium“, ein Konsortium“, ich, alles rutschte zu diesem Abgrund. „Meine
silbrig schimmerndes Bürohochhaus, das mit Aluminiumpa- Großeltern wurden dann auch abgeholt, aus ihrer Wohnung,
neelen, abgerundeten Edelstahlfenstern und Y-Grundriss tat- auf einem Lkw.“ Seine Stimme wurde brüchig, leise. „Um 12
sächlich entfernt an ein Raumschiff erinnerte. Eine Stimme am Uhr, am helllichten Tag. Jeder konnte es sehen.“ Dann schwieg
Telefon, kein Lexikoneintrag mehr. Freundlich, sachlich, fast er und – jetzt erst sah ich es – kämpfte mit Tränen. Ein Gefühl
scheu. Ja, man könne sich ja mal zu einem Vorgespräch tref- wurde groß, übergroß – es übergoss mich: Scham. Dann fasste
fen. Nein, nicht in der Stadt, privat, in seinem Haus in Berlin- er sich, sprach von seinem Studium in Berlin und London, sei-
Zehlendorf. Eine Backsteinvilla am Stadtrand. Ein Jaguar E- nen Lehrern und Architekturvorbildern, vom Bauhaus und Erich
Type-Coupé in der Parkbucht. Der Hausherr rief vom Eingang Mendelsohn, dessen „horizontale Linie“ ihn inspiriert habe. Der
her: „Den fahre ich kaum noch. Nur zum Zigaretten holen“, Entwurfsskizze von Georg Heinrichs zum Jugendgästehaus, Berlin 1962 „deutschen Vertikale“ enthalte er sich. Wir gingen ins Wohnzim-
und bat mich herein. „Wir gehen ins Büro.“ Pop-Art an den mer, er zeigte mir seine Kunstsammlung, das Gipsrelief von
Wänden, Parkett auf dem Boden, zwei Wassily-Chairs vor den Oskar Schlemmer, das ihm Tut Schlemmer geschenkt hatte, und
Zeichentischen. Auf einem wollte ich mich niederlassen. den wandhohen Modulor-Mann von Le Corbusier, sorgfältig aus
„Nein. Bitte nicht! Das sind noch Originale. Bespannt mit Ei- Holz geschnitzt. „Das ist die Gussvorlage für den Modulor am
sengarn. Die schaffen uns nicht mehr.“ Er lächelte. Ein schma- Hochhaus am Olympiastadion“, dessen Verschrottung habe er
les, fast scheues Lächeln in einem schmalen, ernsten, von Fal- den Bauleuten ausreden können, „für 50 Mark und eine Kiste
ten durchfurchten Gesicht. Wir setzten uns auf zwei Freischwinger jüngeren Datums. „Die Bier“ und lächelte wieder, fein und scheu. Am Ende unseres Gesprächs – ich war erschöpft
kaufe ich nur wegen der Packung.“ Er kramte eine Zigarettenpackung hervor, Marke wie ein Tiefseetaucher auf dem Weg nach oben – zeigte er mir noch eine Mappe, gefüllt mit
„Regie“. „Blau ist meine Lieblingsfarbe. Die war gut gestaltet. Bis sie jetzt alles verhunzt seinen knappen, grafischen Architekturskizzen. Auf jedem Blatt mit wenigen, breiten Linien
haben.“ Er deutete missmutig auf den dicken, schwarz-weißen Warnhinweis, entzündete die Umrisse seiner Bauten fixierend. Viele davon in seiner Lieblingsfarbe: Blau. „Darf ich
die Zigarette und schaute mich an: „Also, was interessiert Sie?“ Wenige Gespräche behält eines mitnehmen?“ Uh, was hatte ich gesagt!? Er zögerte: „Nur nichts von der Autobahn-
man in Erinnerung, mehr als nur die Aussicht, die Sympathie oder Gegnerschaft des Ge- überbauung.“ Ich nickte. Und nahm das Blatt heraus: Das Jugendgästehaus am Landwehr-
genübers oder das Wetter bei der Hinfahrt. Aus diesem Gespräch erinnere ich mich, selbst kanal, erbaut 1962. Er beugte sich vor, betrachtete seine vor Jahrzehnten entstandene Zeich-
nach so vielen Jahren, an fast jedes Wort. Es gehört zu den Grundregeln, das Vorgespräch nung: „Die Abtreppung sollte auf das Shell-Haus von Emil Fahrenkamp regieren. Das steht
zu einem Filminterview mit einem soliden Kompliment zu beginnen: „Die Proportionen, gegenüber“. Aus unserem Projekt wurde nichts. Das Fernsehen macht keine Filme mehr
das Raster der liegenden Fenster und Alu-Paneele, das ist perfekt austariert, in Ihrem ersten zum Thema Architektur. „Das interessiert ja keine Sau“, erklärte mir der leitende Redakteur.
Bürohochhaus, dem Evangelischen Konsortium!“ Ich strahlte ihn an. „Das steht leer. Die Einige Monate später erreichte mich ein Päckchen. Ein Buch, die Architektenmonographie
wissen noch nicht, was sie damit machen wollen, wahrscheinlich abreißen.“ Kurz ließ er des Interviewten. Auf der ersten Seite eine persönliche Widmung. Ich nehme sie mir immer
seinen Blick über die Zeichentische seines schon stillgelegten Büros wandern. „Ich ent- einmal wieder vor, wenn ich im Hader liege, mit aktueller Architektur, Architektur über-
werfe immer alles selbst, von der Tiefgarage bis zu den Hausnummern.“ Er stand auf. „Für haupt, auch mit mir selbst. Lese sie aufmerksam und erinnere mich, was Architektur sein
die Autobahnüberbauung habe ich eine eigene Schrift entwickelt.“ Jetzt erst bemerkte ich kann: nichts weniger und nichts mehr als der Entwurf einer besseren Welt: Für einen inter-
die Mappen auf den Zeichentischen. Zu jedem seiner Bauprojekte eine – mit Skizzen, Plä- essanten Interessierten einer Architekturentwicklung der Internationalen Moderne, die hier,
nen, Fotografien, Zeitungsartikeln, alles akribisch für das Gespräch vorbereitet. Er klappte während der NS-Zeit, unterbrochen war, was mich zum Versuch einer Wiederaufnahme und
eine der Mappen auf, präsentierte eine klare, horizontal organisierte Schrifttype. „Wow“, Weiterführung dieser Ideen veranlasste. November 2003, Georg Heinrichs. (1926-2020)
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