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REDINGS  ESSAY

                                                            LU UND




                                           DIE ELEFANTEN






                                                               Ein Essay von Benjamin Reding




               S  ie malte den Eiffelturm. Als Schnittzeichnung. Mit dickem Filzstift. Die vier klobigen,  hineingebaut in einen alten, längst aufgegebenen Ausgang. Der Herr von der BVG öffnete
                  steinernen Füße, die mächtigen Bögen, das Zickzack der Streben, die Restaurant etage,
                                                                             die Tür: Tatsächlich, ein Büro! Ohne Tageslicht, neonbeschienen, voller Bild schirme, auf
               sehr gewissenhaft, mit Küche, Klo und Abstellkammer und dann, die zweite Etage ließ sie  denen das Gewusel auf  den Bahnsteigen flimmerte und auf einem sogar das reguläre TV-
               weg, ganz oben, in der Turmspitze, ein einziges, kleines Zimmer. Mit Schreibtisch und  Programm. „Das läuft nicht zum Spaß, das müssen wir sehen, damit wir als Erste wissen,
               Telefon und Papierstapeln. „Das Büro“, sagte sie, zeigte mir ihre Zeichnung und fragte:  wenn etwas passiert. Demos, Unfälle, Katastrophen. Dass wir sofort rea gieren können.“
               „Wie gefällt’s dir?“ Und ich sagte: „Das gibt’s doch gar nicht. Da oben ein Büro. Ganz be -  „Macht der Job eigentlich Freude, so im ewigen Neonlicht?“, fragte Lu und schaute auf ihre
               stimmt nicht.“ „Gibt es doch!“ „Nein, gibt es nicht!“ „Doch!“ „Nein!“ „Doch, doch, doch!“  Uhr. Der Herr von der BVG nickte energisch. „Ich war eine Zeit lang arbeit s  los. Das will ich
               Dann haute sie mir mit der Faust auf den Kopf. Ich machte einen Schritt zurück. Und sie  nicht nochmal erleben.“ Pfarrer Germer wartete. Unter dem Vordach der Kaiser-Wilhelm-
               war erschrocken über ihren Mut. „Tut mir leid.“ „Schon gut.“ „Ich heiße übrigens Lu.“  Gedächtniskirche. Herr Germer sah nicht wie ein Pfarrer aus, jedenfalls nicht so, wie man
               „Lu?“ „Louisa, aber alle nennen mich Lu.“ Dann schrillte die Pausenklingel und wir trab -  sich einen Pfarrer vielleicht vorstellt: dünn, hager, asketisch, mit kah lem Kopf und dicken
               ten zurück in die Klassenzimmer, sie in die 4a und ich in die 4b. Seither kannten wir uns  Brillengläsern. Eher wie ein Möbelpacker oder Schwimmlehrer, mit brei ten Schultern, bre-
               und seither wurde es unser Running Gag: „Gibt’s doch gar nicht.“ „Gibt es doch.“ Eine Zeit  iten Händen und tiefer, fester Stimme. „Wir wollen die Büro räu me gerne umnutzen, die
               lang wollte sie Archi tektin werden, sie wurde etwas anderes. Vor zehn Tagen sah ich sie  Kirche mehr öffnen.“ Wir gingen um das Eiermann’sche Oktogon herum, er schloss den
               wieder. Nicht das erste Mal seit der Grund schule, aber das erste Mal seit 15 Jahren. Sie  Verwaltungstrakt auf, wir traten ein. Draußen Stadtlärm, hier ge dämpf te Stil le, draußen
               war in Berlin, zu einer Besprechung bei ihrer                                            sonniger Herbst, hier milchiges Däm merlicht,
               Partei, die sie nie FDP, sondern immer die „Libe -                                       draußen  visuelles Chaos aus Au tos, Läden,
               ra len“ nannte. Lu war dort etwas geworden, vor -                                        Plakaten und Re kla men, hier gestaltete
               ge drungen bis ins Zent rum der Macht, wo die                                            Ordnung, Architektur als Glei chung, die in ihren
               Flu re klimatisiert, die Teppiche weich und die                                          Teilen aufgeht. Das Büro lag in einer der Raum -
               Bü rowände mit mo derner Kunst behängt sind.                                             kanten, getrennt vom Er schließungsgang durch
               Sie kam mit dem Taxi, wir gingen in eine Kneipe                                          Klarglas, und der wieder getrennt vom Draußen
               ums Eck. Sie schaute auf ihr Smartphone,                                                 durch das einheitliche Betonraster der Kirche
               drück te Anrufe  weg. „So, eine Stunde haben                                             und trans luzentes Glas. Ein Haus im Haus, und
               wir.“ Sie spielte mit ihrer Armbanduhr in gesetz -                                       so, trotz der profanen Nutzung in der Wirkung
               ten, ge übten Bewegungen, sie lächelte, oft und                                          streng und sakral. „In meiner Arbeit be komme
               un ver bindlich, und lachte kaum noch, und                                               ich viel mit von den Sorgen der Men schen, vor
               wenn, war es ein angeknipstes Lachen, laut und                                           allem der Leis tungs druck macht  vielen Kum -
               kalkuliert. Sie hatte sich verändert. Dann sprach                                        mer“, sagte Herr Ger mer und schloss behutsam
               sie von Herrn Lindner, von digitaler Zukunft, von                                        die Tür. Ich hatte Glück, Lu kam im mer über den
               neuen  Leistungsanreizen, vom Versagen  der                                              Hauptbahnhof nach Berlin, den alten Bahnhof
               GroKo, von freier Wirtschaft, von ihrem Treffen                                          Zoo kannte sie nicht und auch nicht das kleine
               mit  dem  BDI  und von  ihrer Wiederwahl,  den                                           Gittertor neben dem Hochhaus am Bahn hofs -
               Stimmenmehrheiten, Prozentpunkten, Koalitio -                                            vorplatz. Das waren noch Zeiten, als es hier ver-
               nen und Verabredungen. Ich hörte zu. Erst kon -                                          rucht und in ter national zuging und Agenten ihr
               zentriert, ja fas zi niert, dann weniger und noch  Fotos: Benjamin Reding                Unwesen trie ben. Jetzt  war es ruhig, fast ein
               weniger und die Gedanken wanderten, der Blick                                            bisschen pro vin ziell. Und es roch auch so. Der
               wanderte mit, studierte das Glas, den Bier de -                                          strenge Duft von Kuhdung wehte uns ent gegen.
               ckel, die Kratzer im Holztisch, die Ampel an der Kreu zung, den Wechsel der Farben. „In  „Hier“, rief ich und drückte das Gittertor auf. Dahinter lagen ein Parkplatz und dahinter
               Berlin gibt’s ein Büro im tiefsten Geschoss der U-Bahn.“ Lu schaute mich an, als ob sie  ein unauffälliges Bürogebäude mit einem unauffälligen Büroflur, lang und lino leum -
               aufwachte. „Was?“ Ich wiederholte den Satz und sie antwortete: „Gibt’s doch gar nicht.“  beschichtet. „Kommen Sie ruhig herein“, rief jemand aus der offenen Tür am Ende des
               „Gibt es doch!“ Ich legte nach: „Und ein Büro mitten in der Kaiser-Wilhelm-Ge dächt -  Gangs. Und das taten wir. Eine junge Frau saß vor ihrem Com pu ter und tippte fleißig.
               niskirche.“ „Gibt´s doch gar nicht.“ „Gibt es doch!“ Ich geriet in Fahrt. „Und ein Büro mit  Durch das Fenster sah man auf einen Park, sonnig und baumbestanden. „Wie gefällt Ihnen
               Elefanten.“ Sie schüttelte den Kopf. „Doch! Ich zeig’s dir.“ Wir fuhren mit der U-Bahn zur  die Arbeit?“, fragte ich. „Super. Aber am Anfang war es schwie rig, eine Wohnung zu finden
               U-Bahn. Lu hatte morgens aus dem Hotel angerufen und mich gewarnt. „Nur bis 14 Uhr.  und einen Kita-Platz, die Mieten sind hoch und ...“ „Tuuu huuut!“ Es klang  wie eine
               Danach habe ich den Termin.“ Bei der Station Hermannplatz stiegen wir aus. Ein unter -  Trompete. Lu schreckte auf, aber nur sie, die junge Angestellte tippte un ge rührt weiter „Da
               irdischer Art-déco-Palast aus gelben Kacheln, grauen Säulen und labyrinthischen Treppen.  ... stehen zwei Elefanten vor ihrem Fenster.“ Lu zeigte nach draußen. „Ja, das sind Victor
               Lu schaute sich um. Blumenladen, Kiosk, Fahrkartenautomaten. „Hier ist nix, kein Büro.“  und Drumbo, die kommen öfter. Aber als Zoomitarbeiterin ist man das gewöhnt.“ Ich grin-
               „Doch!“ Ganz am Ende des Bahnsteigs, hinter dem Schild „Fluchtausgang“ gab es zwi -  ste. „Jetzt weißt Du, warum es vor dem Bahnhof so riecht. Das ist kein Kuhmist.“ „Nein,
               schen den Kacheln eine Tür. Ich klopfte, ein Herr von der BVG machte auf. „Sie hatten an -  das kommt von den Elefanten“, sagte Lu und lachte und es klang nicht mehr angeknipst,
               ge rufen wegen dem Büro?“ Ich nickte. „Dann kommen’se mal mit.“ Hinter der Tür führte  sondern ein bisschen wie früher. „Uff, die Besprechung! Ich bin schon viel zu spät.“ Sie
               eine Treppe bergab und dahinter eine Treppe herauf und mitten darauf stand ein Haus,  nickte mir zu, strich ihr Kostüm glatt, lief hinaus und stieg in das nächste Taxi.


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