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Jasmin Jouhar
Foto: Messe Berlin GmbH
1976 geboren, Studium Kunstgeschichte und Neuere Geschichte in Frankfurt und Berlin 2008-2016 Redakteurin bei Baunetz seit 2016
Freie Autorin, Redakteurin und Moderatorin in Bereich Innen-/Architektur und Design in Berlin, mit Veröffentlichungen in Fach- und
Publikumsmedien, aktiv in der Förderung von jungen DesignerInnen, mit Coachings, Jurys, Workshops und Vorträgen an Hochschulen
Foto: Felix Brüggemann Foto: Staatliche Museen zu Berlin
Strategisch günstig Unter den Linden: Hotel Chateau Royal (1) • Strategically located on Unter den Linden 2009 fertiggestellt – von David Chipperfield: Neues Museum (3) • Completed in 2009 – by David Chipperfield
W as man für ein Wochenende in Berlin braucht außer bequeme Schuhe und Kon- originelle Mischung aus Stalins sozialistischem Klassizismus und der preußischen Schin-
kel-Schule. Vor und nach der „Zuckerbäcker“-Phase baute man übrigens konsequent
dition? Mut zur Lücke! Die Stadt ist einfach viel zu groß, um sich in zwei Tagen
einen kompletten Überblick zu verschaffen. Wir schlagen erst einen weiten Bogen in den modernistisch, sodass bei einem Spaziergang entlang der Achse die Ideologien fröhlich
Osten und dann einen in den Westen – und lassen entscheidende Sehenswürdigkeiten kollidieren. Mittendrin: die Architektur Galerie Berlin (9), die dank des internationalen
wie Fernsehturm, Humboldt-Forum, Philharmonie, Reichstag, Berghain oder Ku’Damm Ausstellungsprogramms immer einen Besuch wert ist. Wir bleiben in der frühen DDR
nonchalant aus. Dafür geht es im Zick-Zack-Kurs durch die bewegte Geschichte der Stadt mit einem Abstecher zum imposanten sowjetischen Ehrenmal (10) im Treptower Park,
vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. erbaut 1949. Die pathosgetränkte Anlage besteht aus einer rund 30 Meter hohen Kolossal-
statue und einem Soldatenfriedhof der sowjetischen Armee. Bis zur Wende war das Areal
Samstag: Von der Insel der Hochkultur zur sowjetischen Kolossalstatue Schauplatz von Massenveranstaltungen. Heute ist es vor allem rund um den 8. Mai in den
Schlagzeilen, wenn sich Putin-freundliche Russen zum Gedenken versammeln.
r 10 Uhr – Los geht’s am Hotel Château Royal (1), eingerichtet mit viel zeitgenössischer r 18 Uhr – Vom sowjetischen Ehrenmal ist es ein kleiner Spaziergang durch den Trep-
Kunst von Irina Kromayer und Etienne Descloux. Für ein Wochenende in der Stadt liegt tower Park und den Plänterwald zum Eierhäuschen an der Spree. Das historische Aus-
es strategisch günstig in einer Seitenstraße des Boulevards Unter den Linden. Wir wenden flugslokal wurde zu neuem Leben erweckt, mit dem Biergarten „Zum Anleger“ (11) und
uns als erstes Unter den Linden nach Osten, Richtung Museumsinsel (2). Hier warten mit dem Restaurant Ei-12437-B (12) unter der Leitung der Gastronomin Jessica-Joyce Sidon.
dem Alten Museum, dem Neuen Museum (3), dem Bode-Museum und der Alten Nati- Im Biergarten gibt es Ehrlich-Herzhaftes wie Bratwurst und Räucherfisch, das Restaurant
onalgalerie so viele sehenswerte Häuser, hier könnte man zwischen griechischer Antike serviert gehobene regionale Küche mit wechselnder Karte. Nicht gerade zentral gelegen,
und preußischem Klassizismus gleich das ganze Wochenende verbringen. Nur das Perga- sind das Ambiente und die Qualität des Essens den Abstecher allemal wert. Den Absa-
monmuseum können wir uns sparen, das ist wegen Sanierung geschlossen. Ein Muss für cker nimmt man am besten in der Bar des Château Royal – BerlinerInnen und Gäste
Architekturfans: die von David Chipperfield Architekten geplante James-Simon-Galerie sorgen hier stets für eine unterhaltsame Mischung.
(4) (2019), das Eingangsgebäude der Museumsinsel mit eigenen Ausstellungsflächen.
r 12 Uhr – Nach einem Vormittag der Hochkultur ziehen wir Richtung Nordosten, zum Sonntag: Vom Holocaust-Mahnmal zum Wohnhochhaus
Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg. Dort trifft sich am Samstag die bessergestellte Bohème
auf dem Kollwitzmarkt (5) zum Einkaufen und Anstoßen und lässt es sich gutgehen, mit r 10 Uhr – Tag zwei starten wir mit einem kleinen Frühstück im Hotel – später wird’s
Austern, Champagner und Currywurst. Nach dem Markttrubel wartet ein stiller Ort in Lich- üppiger! Auf dem Boulevard Unter den Linden wenden wir uns heute nach Westen, Rich-
tenberg. Direkt am Obersee steht versteckt ein Juwel der Moderne, das Landhaus Lemke tung Brandenburger Tor (13). Einmal durch das Wahrzeichen der Wiedervereinigung
(1932). Es ist das letzte von Mies van der Rohe gebaute Wohnhaus vor seiner Emigration flanieren, kurz rechter Hand den Reichstag grüßen und dann links abbiegen. Südlich des
1938. Weniger repräsentativ als Haus Tugendhat oder die Häuser Esters und Lange, ist der Tors erinnert das Mahnmal für die ermordeten Juden (14) Europas an das dunkelste
flache Backsteinbau in seiner Einfachheit doch ein „richtiger“ Mies. Unter dem Namen Kapitel der deutschen Geschichte. Von Berlin aus plante und organisierte Nazi-Deutsch-
Mies van der Rohe-Haus (6) dient er als Ausstellungshaus für zeitgenössische Kunst. land die Vernichtung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden in ganz Europa. Das
r 16 Uhr – Wir machen einen Zeitsprung und landen in den 1950er-Jahren, auf der Karl- Stelenfeld nach einem Entwurf des Architekten Peter Eisenman (2005) vergegenwärtigt
Marx-Allee (7), dem auf den Trümmern des Kriegs hochgezogenen Prachtboulevard der das Unvorstellbare auf abstrakte Weise, ein unterirdischer Ort der Information liefert
jungen DDR. Zwischen Straußberger Platz und Frankfurter Tor (8) erstrecken sich auf fast die historischen Fakten des Grauens. Gegenüber, unter den Bäumen des Tiergartens,
zwei Kilometern Länge die „Arbeiterpaläste“, Wohnhäuser mit reich verzierten Fassaden steht eine weitere, einzelne Betonstele: das Denkmal für die im Nationalsozialismus
aus Naturstein und Keramik. Der Baustil mit seinen antikisierenden Elementen gilt als verfolgten Homosexuellen (15) (Elmgreen & Dragset, 2008). Bei einem Spaziergang
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