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REDINGS ESSAY



                                            WIE IM FILM








                                                            Ein Essay von Benjamin Reding





            E  s müffelte nach Staub, nach feuchtem Mauerwerk, nach Dieselöl und süßlich nach  die letzten Meter bis zur Haustür. „Uff, noch mal Glück gehabt.“ Ich seufzte es leise. Der
               vergorenem Obst. In einem Blechregal unter dem schmalen, vergitterten Fenster war-
                                                                          Winter kam früh in jenem Jahr und im dritten Anlauf auch die TÜV-Plakette. Ein ehema-
            tete der Inhalt verstaubter Einmachgläser darauf, irgendwann doch noch gegessen zu  liger Studienkollege, schon zu Schaupielschulzeiten der „Star“ des Jahrgangs, hatte am
            werden. Ordentlich in Reihe standen sie, mit aufgeklebten, handgeschriebenen Zetteln:  Rand der Wälder um Potsdam für sich und seine junge Familie ein ambitioniertes Haus
            Quitten, Stachelbeeren, Holunder. Der Inhalt dunkelgrau, fast schwarz. „Bis zum Garda-  gebaut. Er interessierte sich für die 1970er (was man seinem Haus ansehen konnte) und
            see waren wir damit und zum Lago Maggiore. Ich habe immer hinten geschlafen, das ist  die Oldtimer jener Jahre. Ihn würde ich als Ersten besuchen, im dichten Schneetreiben
            richtig gemütlich, wie ein kleines Sofa.“ Sie klang betont heiter, machte einen Schritt  fuhr ich los. Oh, diese Straße quer durch den Wald hatte es im Sommer noch gar nicht
            nach vorn, schob das Garagentor ganz auf. Es quietschte. „Jedes Jahr werkstattgewartet,  gegeben. Was für eine wunderbare Abkürzung! Aber der Weg wurde krumm und hügelig,
            tipptopp.“ Sie war schon im Kleinanzeigen-Verkaufsgesprächs-Textmodus, nahm die Folie  plötzlich standen sogar Bäume auf der Straße. Dann ein Graben, ein Knall und vor mir
            ab, durchsichtig, wie alte Regenmäntel. Der Staub wirbelte im Gegenlicht. „Oh, wow!“  der rege Verkehr einer Bundesstraße. Nur mit Vollgas schaffte ich es in eine Lücke. Jetzt
            Der Ausruf entfleuchte mir, ungeplant, fast zu früh. Mächtig und vergangen, ja edel sah  klang der Wagen wie ein Panzer. „Wow, den hat Paul Braq entworfen, typisches Beispiel
            die betagte Limousine aus. Die klare, kompakte Form, der oldtimerige Kühlergrill mit sei-  seines kantigen Autodesigns“, gab sich mein Schauspielkollege sachkundig. Er schaute
            nem silbernen, hochmütigen Stern. „200er D, Strich-Acht, Baujahr 71, Lackierung Bor-  auch unter den Wagen. „Hm, Dein Auspuff ist ab. Hast Du die Abkürzung durch den Wald
            deaux-Rot und Elfenbein“ erklärte sie „Der Strichachter hat mein Vater immer gesagt. Und  genommen? Die ist nur im Winter offen, für Räumfahrzeuge.“ Er grinste. „Aber toller
            meine Mutter: der Rotweiße. Und unsere Nachbarn: Bauernbenz.“ Sie lächelte. „Ich bin  Schlitten, wenn Du ihn mal loswerden willst, Du weißt ja, wo ich wohne.“ Er grinste, noch
            den nie gefahren, nur meine Mutter, sogar noch mit über 80, bis vor zwei Jahren.“ Sie  bühnenreifer. „Nein, den behalte ich, so ein Glück hat man nur einmal!“ Und gab trotzig
            kramte einen Schlüsselbund aus ihrer Hosentasche, schwieg einen Moment. „Sie ist jetzt  mit Panzergedonner Gas. Jedoch, nach diversen Autobahnfahrten als fahrendes, eher krie-
            in Pflege.“ Mit einem Ruck gab sie mir den Schlüssel.                              chendes Verkehrshindernis (mit maximal 80 Stundenkilo-
            „Man muss irgendwie vorglühen, an der Seite, da ist so                            meter), nach Hunderten (erfolglosen) Manövern, mit dem
            ein knopfartiger Hebel.“ Ich schloss auf, öffnete die Fah-                        Schlachtschiff innerstädtische Parkplätze zu ergattern,
            rertür, sie knarrte, wie die Planken eines betagten Segel-                        nach unzähligen (gescheiterten) Startversuchen an eisigen
            schiffes. Hitze quoll mir entgegen, der Geruch nach Taxi,                         Wintermorgenden, legte ich Sonnenbrille, Hut und Papiere
            Kunstleder, erhitzen Plastikarmaturen, lange schon ver-                           zurück ins Handschuhfach und verkaufte den „Rotwei-
            glühten Zigaretten. Ich zog den Hebel, warte und drehte                           ßen“ an meinen einstigen Mitstudenten, der schon mehr-
            den Schlüssel. Nichts. Nicht mal ein Zittern, „Man muss                           fach sehnsüchtig nach dem „Paul Braq-Modell“ gefragt
            ihn länger gezogen halten, bis da so ein Draht aufglüht,                          hatte. Aus Unruhe, nicht Neugierde, rief ich ihn ein paar
            dann erst den Schlüssel umdrehen.“ WRUMM! Die Frau                                Wochen später an: Ja, der Wagen fahre sich ganz prächtig,
            mittleren Alters, in ihrem seriösen, wohl extra für den Ver-                      beteuerte er, aber bei einem Vorstellungsgespräch für sein
            kaufstag ausgesuchten Hosenanzug, machte einen über-                              nächstes Engagement, bei einem der strengsten, modern-
            raschten Schritt zurück. Laut nagelte der Diesel. „Sehen                          sten Regisseure habe das Gefährt pechschwarze Ölflecken
            Sie, der meint es gut mit Ihnen.“ Ihre Gesichtszüge ent-                          direkt vor seinem Baudenkmal-Theater hinterlassen. Jaja,
            spannten sich, sie wirkte erleichtert, plötzlich ging es  Foto: Benjamin Reding   die Ölwanne ... Der berühmte Theatermacher war, wie
            schnell. „Und? Nehmen Sie ihn?“ Man muss handeln,                                 könnte es anders sein, „not amused“. Aber das Engage-
            dachte ich, das gehört sich so. „Tausendachthundert, ja?“                         ment habe er dennoch gekriegt. „Man, da hast Du ja
            Aber sie handelte nicht, sie nickte. „Die Papiere liegen im Handschuhfach.“ Ich gab ihr  Glück gehabt“, hörte ich mich sagen. „Naja“, er habe den Wagen danach verkauft, an
            das Geld, sie steckte es ein, ohne nachzuzählen. „Schöner Wagen“, sagte ich noch und  einen Kumpel in London, aber mit dem „dicken Ding“ wäre der im Linksverkehr nicht zu-
            sie: „Ja, der wird Ihnen Glück bringen, ganz bestimmt!“ Sie winkte mir nach. Ein bisschen  recht gekommen, nach diversen Blechschäden habe er ihm den Wagen zurückgegeben,
            langsam, ein bisschen schwergängig, aber auch majestätisch fuhr sich der Oldtimer, ein  unentgeltlich. „Jetzt fahre ich ihn wieder, macht langsam wirklich Spaß.“ Ich, längst Fah-
            selbstbewusstes Automobil, keine weggeduckte, gesichtslose Windkanal-Flunder. Ich kur-  rer eines schnöden Kleinwagens, war beruhigt. Bis ich den „herausragendsten Protagoni-
            belte da ein Schiebedach zur Seite, klappte dort ein „Ausstellfenster“ nach außen, drückte  sten des Berliner Theaterlebens“, der er inzwischen geworden war, zufällig auf einer Pre-
            hier einen Knopf und dort und dort und öffnete das Handschuhfach: Wagenpapiere in  miere am Gorki-Theater wiedersah. Nicht auf der Bühne. Im Foyer humpelte er mir ent-
            vergilbter Plastikfolie, Betriebsanleitung von 1971 und weit hinten ein Hut, typischer Be-  gegen, an Kopf und Arm dick bandagiert. Er nahm mir die Frage ab: „Ja, ich hatte einen
            amten-Borsalino und eine Plastiksonnenbrille, Hornimitat, sicher beides vom Vorbesitzer.  Unfall.“ Mein Mund wurde trocken, meine Stimme kratzig: „Doch nicht mit dem ...?“
            Sollte ich das zurückbringen? „Mann mit Hut fährt selten gut.“ Ich dachte an den abge-  „Doch, mit dem Oldtimer. Unfall auf der Autobahn. Totalschaden.“ Jetzt, endlich durfte
            standenen Autofahrerspruch, lächelte und ließ es. Setzte mir Hut und Brille selbst auf:  es raus. Ich sagte, nein, ich brüllte es: „Man, hast Du ein verdammtes, beschissenes Pech
            Wie aus einem 1960er-Jahre Gangsterfilm sah die Welt jetzt vor der breiten Windschutz-  gehabt mit dem mistigen, bescheuerten Kack-Auto!“ „Nein.“ Er sagte es ruhig, fast heiter.
            scheibe aus: Sepia-tonig und dezent unscharf. Und ich war der Hauptdarsteller! Der coole  „Nein?“ „Nein, ich habe Glück gehabt. Bin beim Fahren ohnmächtig geworden, Wespen-
            Geheimagent aus „Alphaville“, der alles perfekt planende und doch scheiternde Einbre-  stich, Kreislaufversagen, allergischer Schock. Hab’ noch die Leitplanke erwischt und bin
            cher aus „Fahrstuhl zum Schaffott“, der smarte Paparazzo aus „La dolce vita“. Ich juchzte!  dann auf dem Seitenstreifen ausgerollt, richtig filmreif.“ Er lachte trocken. „Aber wenn’s
            Auf der ersten Innenstadt-Kreuzung begann der Motor zu stottern, auf der Straße vor mei-  zu Hause passiert wäre, ohne den Autobahn-Notarzt, dann wäre ich wohl ...“ Er schaute
            ner Wohnung fiel er aus. Aber das Haus lag talabwärts, mein Blech-Schlachtschiff rollte  mich an. „Dein olles Auto hat mir das Leben gerettet.“ Und umarmte mich.

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