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REDINGS ESSAY
                                       DER HERZLOSE




                                           GROSSVATER





                                                            Ein Essay von Benjamin Reding





            G   im Amtssitz Bellevue, nein, auch nicht mit Harry und Meghan in irgendeinem Exil-  Stadt und ihre Menschen mit der Welt verbunden sind“.  Auch jetzt, im Nachbau, sind
                estern hatte ich einen privaten Termin im Schloss. Nein, nicht bei Herrn Steinmeier
                                                                          die Räume von royalen Ausmaßen. Dafür kann Architekt Stella nichts, die Raumhöhen
            Schlösschen zwischen Windsor und Malibu, und nein, auch in keinem neuen Trend-  mussten sich an den barocken Fassaden, die Raumbreiten an den historischen Parade-
            Laden oder Geheimtipp-Shop, der sich spöttisch-selbstironisch „Schloss“ betitelt, nein,  zimmern für eine, zumindest  in ferner Zukunft, mögliche Rekonstruktion orientieren, aber
            ich hatte dort ein Treffen mit mir selbst. Unerwartet und unangekündigt. An der Spree im  so leergeräumt, so ohne Parkett und Stuckdecken, ohne Vertäfelungen und Supraporten,
            Berliner Zentrum steht ein Schloss – so, wie man sich ein Schloss vorstellt, mit Kuppel,  ohne Kronleuchter und Paradebetten wirken die Räume zu hoch, zu lang, falsch propor-
            großen Toren, malerischen Erkern und  Trompete spielenden Sandsteinengeln über den  tioniert. Die Ausstellungsgestalter haben das  Nachsehen, füllten die übermächtige Leere
            Eingangsportalen. Es ist, das ist das Überraschende, ganz neu. Vorher stand dort ein in  mit einer Wundertüte technischer Gimmicks (vom „Rad der Geschichte“ bis zum eckigen
            golden schimmerndes Glas gehüllter Betonbau, der sich „Palast der Republik“ nannte  „Riesenglobus“), umrahmt von vielen, vielen  Erläuterungstexten, alles betont locker, be-
            und von Bowlingbahn bis Parlament, von Eisdiele bis Parteitagssaal alles bot, was ein  tont „hip“ formuliert. Da wird der zweite Weltkrieg zum „Clash weltanschaulicher Ideo-
            staatliches Symbolgebäude zum Beweis eines perfekten Zusammenlebens benötigt, das  logien“, die opferreichen deutschen Revolutionen sind ein „Update der Umstände“, aber
            aber aufgrund von Asbest- und politischen Kontaminationen abgerissen werden musste.  „selten günstig zu haben“, da war während der Weimarer Republik „in Tanzlokalen und
            Davor stand dort nichts, nur ein riesiger, für den Volvo-Fuhrpark der Regierenden und  Varietés Crossdressing beliebt“ (das zeitgleich mindestens 9000 Menschen unter dem Ver-
            ihrer Militärparaden genutzter Parkplatz, aber davor wiederum, da erhob sich dort das  dikt des § 175 ins Gefängnis mussten, lässt die Ausstellung unerwähnt) und „in den Nacht-
            Schloss der preußischen Könige, ein barocker Kasten von fast überheblichen Ausmaßen.  lokalen und Tanzdielen brachten die Gäste das Geld durch“ (Wer hatte „das Geld“? Wer
            Äußerlich  – mit  schier  endlosen  Fensterreihen  und  ein  paar  säulenumstellten  Tri-  konnte es „durchbringen“?). Plötzlich, nach Gang von Effekt zu Effekt, von Riesensaal zu
            umphpforten – etwas schroff geraten, offenbarte es im Inneren seine verspielte Pracht:  Riesensaal, von i-Männchen-Text zu i-Männchen-Text, von Berlin-Ranschmeißerei zu Ber-
            Von muskelbepackten Marmor-Atlanten gestemmte Treppenhäuser des Bildhauer-Archi-  lin-Schönfärberei hatte ich genug. Konnte das Schloss von außen an einen etwas stren-
            tekten Andreas Schlüter, zierliche Teesalons von Karl Fried-                    gen, aber doch freundlichen Großvater erinnern, hier drinnen
            rich Schinkel und – bis 1717 – auch das Bernsteinzimmer von                     fehlte ihm das Herz. Ich wurde traurig, ich wollte hinaus. Da
            Johann-Friedrich-Eosander von Göthe, dessen Name so ver-                        entdeckte ich mich. Als Foto auf einem Miniposter, unüber-
            schlungen barock klingt, wie es seine Raumschöpfungen                           sehbar gegenüber dem Eingang der Ausstellungszone „Frei-
            waren. 1945 ausgebrannt und in Teilen eingestürzt, wäre                         räume“ (Motto: „Berlin versteht sich als Ort von ganz grund-
            das Schloss noch rettbar gewesen, aber den neuen Herr-                          sätzlichem Appeal: Man kommt her für die Freiheit.“) plat-
            schern war die „Zwingburg des Kapitalismus“ zuwider, und                        ziert. Ach, das Miniposter, das ich vor einigen Jahren zur An-
            sie befahlen die Sprengung. Nun ist es als Nachbau wieder-                      kündigung eines Party-Happenings gestaltet hatte, für einen
            erstanden und, damit es gewiefte Kunsthistoriker nicht mit                      jener nichtkommerziellen, selbstverwalteten Veranstaltungs-
            dem Original verwechseln, um einige absichtsvoll „mo-                           orte, die Berlin nach der Wende berühmt gemacht haben. Der
            dern“ gestaltete Gebäudeteile (was Architekt Franco Stella                      Eintritt zur Party war natürlich frei, wie für nichts dort Eintritt
            und seine Auftraggeber mit strenger Geometrie, dem Werk-                        verlangt wurde. Eine Ecke aus diesem magischen Ort stand
            stoff Beton und der maximalen Reduktion aller Baudetails                        nun – vom Aschenbecher über die zerknautschte Couch bis zu
            gleichsetzen) ergänzt worden. Es heißt jetzt „Humboldt  Foto: Benjamin Reding   den überreich bemalten und mit Flyern, Postern, Aufklebern
            Forum“, behaust Ausstellungen und Museen und steht so                           bestückten  Wänden  – liebevoll-akribisch  nachgebaut  im
            unübersehbar zwischen Fernsehturm, Rathaus und eigener                          Schloss. Nachgebaut? Nein, es waren die originalen Stücke,
            U-Bahnstation, dass man denken könnte, es wäre schon immer dort gewesen. Aber nein,  den Ort gibt es nicht mehr. Das Haus wurde trotz vieler gegenteiliger Versprechungen an
            seltsamerweise, genau so wirkt es nicht. Ich ging hinein. Ich gebe zu, in den neuen Inne-  einen Investor verkauft, was man „Gentrifizierung“ oder „Profitgier“ oder im Schön-Ge-
            reien hatte ich diverse nachgebaute Räume erwartet, die Salons Schinkels vielleicht oder  plapper der Ausstellung „der Leerstand der 90er Jahre weicht einer architektonisch und
            wenigstens das berühmte, von Andreas Schlüter aus Stuck und Marmor regelrecht her-  kommerziell konsolidierten Stadt“ nennen darf. Bei der Schlüsselrückgabe an einen Po-
            ausgeknetete Treppenhaus. Nun, von all dem gab es nichts. Dafür eine fast hochhaus-  litiker der „konsolidierten Stadt“ wurde von den jungen Menschen jedenfalls ganz altmo-
            hohe, streng sachliche und weitgehend detailfreie Eingangshalle mit futuristisch leuch-  disch geweint. „Haben Sie damit etwas zu tun?“, die junge Frau schaute mich fast besorgt
            tenden Riesenrolltreppen und der Ausstellung „Berlin Global“ auf der ersten Etage. Ich,  an. Ihr schwarzes Kostüm wies sie als „Guide“ der Ausstellung aus, ihr Akzent verriet eine
            gespannt auf das „neue“ Schloss, ließ mich treiben. Erst hinein in den „Skulpturensaal“,  Herkunft aus Spanien oder Südamerika. „Ja, das da bin ich“ und zeigte – nicht ohne
            der darbietet, was die DDR-Oberen vom Inventar des historischen Schlosses übrig gelas-  Freude, auch mit etwas Stolz – auf das Miniposter. „Warum ist das?“ Beglückt, gefragt zu
            sen haben: fast nichts. Die armlosen, vom Brandrauch der Bombennächte geschwärzten  werden, erklärte ich den vergangenen Ort, den Verlust solcher Räume, insgesamt den Ver-
            Barockskulpturen rühren an, erinnern, in ihrer verbogenen, zerstörten Anatomie an die  lust einer öffentlich nutzbaren Stadt, jenseits von Privilegien und Besitz. Sie schrieb auf
            Schrecken des Krieges, das Leid der Menschen aus Fleisch und Blut. Dann hinüber in den  einem Zettelchen mit. „Es wird Demo für Erhalt solcher Orte geben.“ „Muchas gracias!“
            Nachbau des Schlüterhofs, mit seinen drei wiedererstandenen, vor Säulen und Skulptu-  Sie bedankte sich mehrfach. „Ich werde gehen hin!“ Als es dämmerte, setzte ich mich in
            ren strotzenden Wänden, um dessen vierte Wand die Baumeister seit Jahrhunderten ran-  den Schlüterhof, trank Cola, betrachtete die Skulpturen, lauschte dem vielsprachigen
            gen und die nun vollendet wurde: Mit einer Fassade von schlaffer, ängstlicher Banalität.  Stimmengewirr der Besucher, sog die Stadtluft ein, die hier nach dem Wasser der Spree
            Dann hinauf ins erste OG. Die einstige Wohnetage der Könige, jetzt Ort der Ausstellung  riecht, und war zu meinem Erstaunen mit dem Bau, der Ausstellung, selbst den Anbauten
            „Berlin Global“, die (so die Selbstbeschreibung) „auf 4000 Quadratmetern zeigt, wie die  von Franco Stella, nicht ganz, aber ein bisschen, versöhnt.

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