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Redings Essay


               DÜSSELDORFER







               SOMMER










               Ein Essay von Dominik Reding
               I  n der Erinnerung sind Sommer lang, warm, still und sonnendurchglüht. Also, der  dämmrig wie in einer großen, alten Kirche. Und es roch sogar danach, diesem Duftge -
                                                                             misch aus Kerzen und Weihrauch und Stein und Mörtel, als atmeten die Mauern unter
                  Sommer 1986 war warm, die Sonne glühte über dem Ruhrgebiet, die Abende
               waren still und der Wind wehte weich, fast zärtlich.          der Hitze tief aus. Und dann gab es doch Geräusche, je weiter man in die Dämmerung
               Oberstudienrat Vierthaler konnte gnadenlos sein: „Sie können kein Englisch, Sie kön-  der Ausstellungssäle vordrang, umso deutlicher wurden sie. Ein Surren, ein Schnarren,
               nen keine Physik, Sie können nicht mal Bio, Sie können gar nichts.“ Er sagte es Lars,  ein Blubbern. „Sssrrr-Sssrrr-Sssrrr, schrab-schrab-schrab, blururusch-blururusch-blurur-
               meinem Kumpel und Mitschüler, und er sagte es vor der ganzen Klasse: „Wenn sich  usch“. Das Surren drang aus einem Ser vier wagen, der ferngesteuert und unermüdlich
               das nicht bessert, müssen Sie gehen.“ Es besserte sich nicht. Lars musste gehen.  auf einer abgesteckten Parzelle hin und her zuckelte, das Schnarren von einem Decken-
               Seine Eltern führten eine Tankstelle, aber Lehrstellen als Automechaniker waren nicht  Ventilator, an dessen Enden sich keine Flügel, sondern Hirschgeweihe drehten, und das
               frei, also begann er eine Schlosserlehre. „Das ist prima, dann kann ich bessere  Blubbern von einem dreieckigen Aquarium, in dem ein Schwarm Neonfische gleich-
               Skateboards bauen.“ Lars skatete und bastelte selbst die Boards. Sein ganzes Zimmer  mütig seine Runden zog. Schüchtern, fast andächtig gingen wir umher, die Kühle im
               stand voll davon. Und mit Kaufhaus-Jugendzimmermöbeln, einem kleinen 70er-Jahre-  Kunstpalast tat gut, vom langen Warten an der Tankstelle hatten wir Sonnenbrand.
               Schwarzweiß-Fernseher, dutzenden Depeche-Mode-Plakaten, die er liebevoll unter  „Meinen  100-Kilo-Papa  schafft  der  aber  nicht“,  Lars  blieb  vor  einem  Stahlrohrstuhl
               IKEA-Rahmen klemmte, und Opel-Autoteilen,                                               stehen, dessen Sitzfläche aus  hauchdünnen,
               denn zur Tankstelle gehörte eine Opel-Ver trags -                                       quietschgelben Plastikfäden bestand, die wie ein
               werkstatt und die unverkäuflichen, ausrangier -                                         Balkonvorhang zwischen Lehne und Stuhlbei nen
               ten Reste bekam er.                                                                     baumelten. Lars Stim me klang laut, ungewohnt
               Ende August, der Monat blieb heiß und wolken-                                           nach  der  Stille,  fast  rebellisch:  „Boah,  ist  das
               los, rief er mich an. Ob ich Lust hätte, mit ihm                                        geil!“ Er  zog mich am Ärmel. Einen Stuhl aus
               nach Düsseldorf zu fahren. Es hatte in allen Zei -                                      nicht mehr als einer Betonplatte und sieben
               tungen gestanden, im Fernsehen, im Spiegel,                                             hineingesteckten, zu einer Sitzfläche gebogenen
               selbst in unsere vom Begriff Design kaum be -                                           Armierungseisen hatte er im nächsten Saal ent-
               rühr te Ruhrgebietsheimatstadt  war die Kunde                                           deckt. So ein Art Endzeit-Bauhaus-Madmax-Frei -
               ge drungen: In Düsseldorf  würde es eine ganz                                           schwinger. Es sah unbequem, aber nicht unbe-
               und gar  wilde, schräge, abgefahrene Ausstel -                                          nutzbar aus. „Die haben wir in unserer Tanke
               lung  zum aktuellen Möbeldesign geben. Und                                              auch!“, Lars lief darauf zu. Ein Sessel komplett
               Design, das war das In-Thema der „stylischen Abb.: Design: Axel Kufus/Ulrike Holthöfer, Foto: Museum Kunstpalast-Düsseldorf/Lothar Milatz  bedeckt  mit Waschstraßen-Reinigungs fasern in
               Eighties“ – von Superstudio bis Memphis, von                                            Azur blau. Lars grübelte über die Konstruktion
               Neo-Kon struktivismus bis Neo-Nierentisch, von                                          und wie es sich darauf wohl sitzen ließe. Viel -
               Philippe Starck bis Ettore Sottsass. Und wenn                                           leicht sank man darin ein und würde von diesem
               einem, wie uns, das Geld für die Originale fehl -                                       zotteligen Tiefseetier regelrecht verschluckt? Aber
               te, dann reichten auch ein 50er-Jahre-Cocktail -                                        Probe sitzen  war  verboten. Ganz am Ende des
               sessel  vom Sperrmüll und ein Set Leonardo-                                             Ausstel lungs rundgangs blieb Lars  vor einem
               Gläser. Lars  legte  die  Depeche-Mode-Kassette                                         Super  markt-Einkaufswagen stehen, dessen Me -
               ein, dreh te das Autoradio auf volle Lautstärke                                         tall  korb sich mit ein paar trickreichen Bie gungen
               und kurbelte die Seitenscheiben nach unten. „Cabrio-Feeling“, sagte er. Beim ersten  und Schnitten in einen Fernsehsessel verwandelt hatte. „Das kann ich auch“, sagte Lars.
               Tankstellenstop sprang sein  verbeulter Opel Kadett nicht mehr an.  Warm start -  Es war nicht klar, ob er es abschätzig oder ernsthaft meinte. Auf der Rückfahrt schwie -
               probleme nennen das die Kenner. Als er darauf wartete, lange wartete, dass der Mo -  gen wir. Von der Autobahn sah man die Lichter des Ruhrgebiets, blinkende Lampen auf
               tor abkühlte, hörte ich ihn murmeln: „Ich kann nix.“          den Spitzen der Kraftwerke und Hochöfen. An. Aus. An. Aus. An. Aus.
               Man sieht den Kunstpalast in Düsseldorf schon von Weitem. Ein massiges, steinernes  Einige Wochen später besuchte ich Lars. Er hatte umgeräumt. Die Skateboards waren
               Rechteck, dramatisch nah an das Rheinufer gesetzt, voller pathetischer Tore, Achsen und  verschwunden, die Jugendzimmermöbel auch. Ein Schalensessel stand jetzt in der
               Symmetrien. Der Kies im Innenhof knirschte unter unseren Turnschuhen, ein Spring -  Zimmermitte, kunstvoll aus einem alten Opel-Kofferraumdeckel  gebogen  und ein
               brunnen plätscherte, gab dem Weg zum haushohen Eingangsportal einen Hauch von  Tischchen davor, das nur aus der sanft geschwungenen Heckscheibe eines Opel
               Italien, von Marktplätzen in Siena, Arezzo oder Lucca, mit ihren strengen Bürgerpalästen  Kadetts und zwei, zu Dreiecken geknickten Lochblechen als Füßen bestand. „Das hast
               und schweren Domtüren am Ende längst ausgetretener Marmor stufen. „Wohnen von  du gemacht?“, Lars nickte. Und seinen 70er-Jahre-Fernseher hatte er gelb gestrichen
               Sinnen“ – quer über die Kunstpalast-Fassade hatte sie die beschwingten Buchstaben  und auf die Antenne einen Saturn aus Styropor und Plastik montiert. „Abgefahren!
               montiert. Sah ein bisschen wie der Reklame-Schriftzug eines Lichtspielhauses aus den  Mann, Du kannst Sachen machen, die sind mindestens so gut,  wie die aus der
               1950er-Jahren aus. Und das sollte es wohl auch. Wir brauchten die schweren Eingangs -  Ausstellung. Mindestens!“, Lars strahlte vor Stolz. Dann drehte er sich um, nahm den
               türen nicht zu öffnen, sie standen weit auf. Still war es drinnen, still und kühl und  Fernseher von der Tischplatte und schenkte ihn mir. Ich habe ihn noch heute.



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