Page 120 - AIT0725_E-Paper
P. 120

WOHNEN  •  LIVING   THEORIE  •  THEORY


                                                               ten Quartiere so wichtige gemeinschaftliche Wohnen entfalten kann. Solche Räume sind insbesondere
                                                               in Bestands- und Neubauquartieren unverzichtbar, in denen viele Menschen mit geringen Einkommen
                                                               in kleinen Wohnungen leben und notwendige Versorgungseinrichtungen sowie bezahlbare Freizeitan-
                                                               gebote nur auf langen Wegen erreichen können. Als Begegnungsorte unterschiedlicher sozialer Milieus,
                                                               Haushaltstypen und Altersgruppen ermöglichen sie gegenseitige Unterstützung und eine Bereicherung
                                                               des privaten Wohnalltags für alle Beteiligten. Die längere Beobachtung einer leerstehenden Gewerbefläche
                                                               im Erdgeschoss eines geförderten Wohnungsbestandes aus den 1980er Jahren im Herzen der Hamburger
                                                               Innenstadt nährte im gemeinnützigen Verein „Altstadt für Alle! e.V.“ sukzessive die Idee, sich für die nach-
                                                               barschaftliche Nutzung dieser Fläche zu engagieren. In dem Quartier auf der Cremon-Insel leben zirka 1500
           Fotos: Miguel Ferraz Araújo                         Menschen in Sozialwohnungen, genossenschaftlichen und privaten Mietwohnungen sowie in neu entstan-
                                                               denem Wohneigentum. Angebote der Daseinsfürsorge fehlen vor Ort weitgehend aufgrund der Insellage
                                                               des Quartiers zwischen stark befahren Straßen und der von Büros, Shopping, Beauty und Tourismus

                                                               Kiosk, der lange als Treffpunkt diente, ist verschwunden, und die Grundschule musste neuen Wohnbauten
           Vorher: leerstehendes Erdgeschoss Cremon-Insel • Before: empty ground floor Cremon island   geprägten Umgebung der Hamburger City und der Speicherstadt: Einkaufsmöglichkeiten sind spärlich, ein
                                                               weichen. Kinder und Jugendliche langweilen sich in der Freizeit wegen fehlender Aufenthaltsqualität und
                                                               mangelnder Angebote auf Spielplätzen und in Freiräumen. Erwachsene haben sich weitgehend in ihre
           Nachher: Grillen vor dem Laden 4 „Mit-Küche“ ... • After: Barbecuing in front of the shop 4 ...  privaten Wohnungen zurückgezogen und kennen sich kaum. Die soziale Frequenz durch innerstädtische
                                                               Arbeitsplätze belastet das Quartier durch parkplatzsuchenden Individualverkehr. Gastronomische Nutzung
                                                               durch Beschäftigte und Touristen ist auf die Mittagszeit beschränkt. So entwickelte sich das Quartier zu
                                                               einem unscheinbaren Durchgangsraum, dessen Quartierspotenziale sowohl in der fachlichen als auch
                                                               in der städtischen Öffentlichkeit weitgehend verborgen geblieben sind und von den Bewohnenden nicht
                                                               eigenmächtig entwickelt werden können.

                                                               Laden 4: mögliche Nutzungen eines „extra Raums“ in der Hamburger Altstadt 10

                                                               Das Projekt „Prototyp Wohnen“ wird seit Ende 2024 zunächst für ein Jahr im Programm „Verborgene
                                                               Potenziale Innenstadt“ der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen im Rahmen der Umsetzung der
                                                               Bundesförderung „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren“ des Bundesministeriums für Wohnen, Stad-
                                                               tentwicklung und Bauwesen gefördert. Die Durchführung erfolgt in einer Arbeitsgemeinschaft bestehend
                                                               aus dem Urban Design und Architekturbüro projektbüro, dem in unmittelbarer Nähe der Fläche ansässigen
                                                               ArchitekturSalon Hamburg, einer Galerie, Plattform und einem Diskursraum für Baukultur, Stadtplanung
                                                               und Architektur sowie dem Verein Altstadt für Alle!. Der innovative Ansatz des zugleich experimentellen
           ... Kochen und Essen als öffentliche Praxis • … cooking and dining as a public practice  und forschenden 1:1 Projektes besteht darin, die tatsächlichen Bedarfe des Bewohnens der Innenstadt zum
                                                               Gegenstand zu machen und diese prototypisch für diese und andere innerstädtische Lagen zu testen.
                                                               Insgesamt werden drei unterschiedliche Nutzungen aus und mit dem Wohnwissen der Bewohner:innen
                                                               für die konkrete räumliche Situation in der zuvor leerstehenden Erdgeschossfläche eines kommunalen
                                                               Wohnungsunternehmens auf der Cremon-Insel von der Arbeitsgemeinschaft entwickelt, erprobt und eva-
                                                               luiert. Aus der Förderung übernimmt die Behörde die monatliche Miete für die leerstehende Erdgeschoss-
                                                               fläche zu marktüblichen Preisen und stellt der Arbeitsgemeinschaft Honorar- und Sachkosten für einen auf
                                                               ein Jahr angelegten Prozess zur Verfügung. In einem ersten Schritt renovierte die Arbeitsgemeinschaft die
                                                               Erdgeschossfläche und stattete sie für unterschiedliche Nutzungsmöglichkeiten aus. Parallel dazu dienten
                                                               Situations- und Kontextanalysen zur Transformation des Wohnens in der Hamburger Innenstadt) sowie
                                                               exemplarische Raumreporte und Interviews mit Wohnenden sowie Recherchen von Referenzprojekten
                                                               der Ermittlung von Bedarfen einer Wohnpraxis jenseits der eigenen Wohnung. Nach der Eröffnungswoche
                                                               mit kuratierten Anlässen wie Tauschladen, Bingo-Abend, Hip-Hop oder Abendessen kristallisierte sich das
                                                               Kochen und Essen als erste prototypische Nutzung heraus, die aus dem privaten Wohnen in den Laden
                                                               4 übersetzt wurde. Unterstützt von einer Mit-Köchin hatte die Nachbarschaft mehrere Wochen die Gele-
                                                               genheit, einen Sonntagskiosk zur nachbarschaftlichen Kontaktaufnahme und für den Einkauf vergessener
                                                               Lebensmittel zu nutzen. An Montagen gab es frühmorgens – nach dem Vorbild der im Hafen entstandenen
                                                               „Kaffeeklappen“ – für alle auf dem Weg zur Arbeit oder in die Schule ein Heißgetränk und belegte Bröt-
                                                               chen. Am Mittwoch stand zwischen 13 und 21 Uhr jeweils das gemeinsame Einkaufen, Kochen und Essen
                                                               in der „Mit-Küche“ im Vordergrund, zu dem sich Nachbarn melden und ihre Wünsche anmelden konnten.

                                                               Perspektiven und offene Fragen

                                                               Dieses Angebot wurde intensiv von Kindern und Jugendlichen genutzt, die sich für das Kochen begeistern
                                                               ließen. Eltern nutzten die Gelegenheit zum Kennenlernen. Die zweite prototypische Nutzung ist unter dem
                                                               Titel „Aktiv-Oase“ dem Thema Bewegung gewidmet. Auch hier geht es darum, etwas, das üblicherweise
                                                               innerhalb der eigenen Wohnung stattfindet, zum Beispiel das Tanzen zu Tik-Tok-Videos im Wohnzimmer,
                                                               wenn die Eltern nicht zu Hause sind, in die öffentliche Situation des Ladens zu übersetzen. Dazu wurde
                                                               der Raum mit Matten, Spiegeln und Boxutensilien ausgestattet. Das von professionellen Trainerinnen ange-
                                                               leitete Programm bietet ein breites Spektrum von wöchentlichen Angeboten für alle potenziellen Zielgrup-
                                                               pen zu unterschiedlichen Tageszeiten. Parallel zu den prototypischen Gemeinschaftsnutzungen entdecken

           120  •  AIT 7/8.2025
   115   116   117   118   119   120   121   122   123   124   125