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Tokyo Nude, 2020
                                                                             von • by Rumi Ando

                                                                             www.rumiando.com


                                                                           Rumi Ando hat Tokio aufgeräumt: Visuelle Störfaktoren wie Wer-


                                                                           betafeln, Elektroinstallationen und Fensteröffnungen hat die

                                                                           japanische Fotokünstlerin aus ihren querformatigen Stadtporträts

                                                                           herausretuschiert. Damit zeigt sie ihre Wahlheimat nackt und un-

                                                                           verstellt und legt die eigentlich starren Strukturen eines Ortes frei,

                                                                           der sonst immer in Bewegung zu sein scheint. Jede einzelne der

                                                                           Fotografien aus der Serie „Tokyo Nude“ zeichnet so ein ganz

                                                                           eigenes, beinahe ornamenthaftes Tokio-Bild, in dem bunt zusam-

                                                                           mengewürfelte städtische Kubaturen aufgrund der fast zweidimen-

                                                                           sionalen Darstellungsweise eine ruhige, flächenhafte Textur ab-

                                                                           bilden. Andos farbenfrohe Abstraktion der (Stadt-)Landschaft kann

                                                                           als Anlehnung auf die Kunst der Yamato-e-Malerei gelesen werden,

                                                                           die schon seit dem Frühmittelalter japanische Bildkompositionen

                                                                           prägt. Und doch evozieren die urbanen Muster vor allem kritische

                                                                           Fragen unserer Gegenwart und Zukunft: Was wäre denn das für

                                                                           eine Stadt, in der es keine sichtbare Kommunikation mehr gäbe?

                                                                           In der alle Ein- und Ausgänge verschlossen und keine Regungen

                                                                           menschlichen Miteinanders mehr erfahrbar wären? Diese Fragen

                                                                           richtet Ando, die im Jahr 2010 im Fachbereich Intermediale Künste

                                                                           an der Tokyo University of the Arts graduierte, an die Betrachterin-


                                                                           nen und Betrachter ihrer fiktionalen Tokio-Dystopie, die inzwi-
                                                                           schen auch als Broschüre veröffentlich wurde. Es ist nicht verwun-


                                                                           derlich, dass die Idee hierzu im Jahr 2020 entstand, zu Hochzeiten

                                                                           des pandemischen Geschehens in Japan, als die Ideale des kom-

                                                                           munalen Zusammenlebens für eine Zeit lang wirklich hinter glat-

                                                                           ten Fassaden verschwanden und die Vorstellung vom Endpunkt

                                                                           der städtischen Zivilisation in gefühlte Nähe rückte. So stellen die

                                                                           pastellfarbenen Bilder ein ästhetisches Dokument dieser Tage dar.
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