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REDINGS ESSAY




                                     DER G.U.K-LOOK







                                                             Ein Essay von Dominik Reding





            M    it zwei Bildern fing es an. Einem inneren Bild und einer Fotografie. Aus dem Ur-  keine Gehry-Sneakers, kein „Vanderrohe“ (englisch ausgesprochen klingt es glaubwürdig
                 laub. Nachträglich entwickelt. Ein Geschenk der mitverreisten Tante. Mein Bruder
                                                                          nach Modemacher)-Abendkleid aus Stahl und Sekurit-Glas auf den Laufstegen. „Respect
            betrachtete das Foto. Lange. Dann stöhnte er. „Ich bin doch schon 15 ...“ Er schaute wie-  man!“ Die schneeweißen Zähne des Afroamerikaners blitzten. Ich hatte zum alljährli-
            der auf das Foto, schüttelte den Kopf „Und seh´ aus wie 12 ...“  Er räusperte sich, legte  chen Ritual der Verleihung des Deutschen Filmpreises angezogen, was man dann so
            das Foto beiseite. Und er hatte Recht. Der Junge auf dem Bild, mit dem adretten Pagen-  trägt – Sakko, schwarze Hose, schwarzes Hemd. Mein Bruder aber trug den G.U.K.-Look.
            Haarschnitt, den von der Sonne Dänemarks rot gefärbten Bäckchen und dem baby-  Und der wurde wahrgenommen. Sofort. Der Afroamerikaner führte seine Faust zum Her-
            blauen Nicki-Pullover sah wirklich wie ein Kind und nicht wie der Kerl aus, der er doch  zen und streckte sie meinem Bruder zum Abschiedsgruß anerkennend entgegen. Es war
            jetzt war. „Das muss ich ändern“ sagte er und ging los. Entschlossen. Mit einer Hose im  eine bewusste Entscheidung, zwei Jahre zuvor, kurz nach dem eigenen runden Geburts-
            „Karottenschnitt“, weiß-gelben Turnschuhen und einem Sweatshirt, mint-grün, mit Fle-  tag. Benjamin war eingeladen, eine Bandfeier, junge Leute. Er zog testweise ein Punk-T-
            dermausärmeln,  kreisrundem  Kragen  mit  eingesticktem  Fantasie-Marken-Label:  Shirt über, das schon länger im Kleiderschrank ruhte. Und erschrak. Gerade das sah alt
            „Chaos“. In zickzackiger 1980er-Jahre-Schrift, kam er zurück. Ein echter Hingucker, wir  aus, oder schlimmer noch: ältlich. „For ever Punk“. Grauenhaft. Aber wie kann der aus-
            dachten aus London, weil doch die New Wave Bands solche Sweatshirts in ihren Videos  sehen, ein junger Look für einen 50-Jährigen? Lebenserfahrung und Weltläufigkeit müs-
            trugen, dabei kam die Vorlage aus Moskau, – nein, nicht die Kleidung, die kam aus der  sen sich abbilden. Sonst wird es lächerlich. Klamotten machen einen nicht „jung“, aber
            Türkei, aber die Idee. Sogar von dem Künstler-Architekten (was, wie sich zeigen wird,  die Signale, die man in der Kleidung spürt, und mehr noch, in dem, der sie trägt: Spiel-
            eine rare Ausnahme darstellt) Wladimir Tatlin. Und tatsächlich, vor einer Disco wurde  freude, Entdeckerlaune, auch der Mut zu Neuem, zum Experiment. Mein Bruder suchte
            er tatsächlich nicht mehr nach seinem Personalausweis gefragt. Das andere Bild war ein  nach Anregungen im Netz, aber bei den „Influencern“ geht es zu gern um Marken und
            persönliches, privates, ein Eindruck: Unveränderbar                                 Promotion, das war nicht, was er suchte. Erst bei den
            eingebrannt, wie die geätzten Striche auf einer Radier-                             People of Colour mit deren rasant-kreativer, lässiger, oft
            platte. Ein korpulenter Herr mit Halbglatze, voluminö-                              auch selbstironischer Art, sich zu kleiden, wurde er fün-
            ser Hornbrille und über dem Bauch spannendem Vis-                                   dig. Looks, bei denen es im Kern um eben jene „Di-
            kose-Hemd, der mit viel Tamtam und Schweiß auf der                                  gnity“ geht, die ihnen in den USA und weltweit so oft
            Stirn seinen 50. Geburtstag feiert: Der eigene Vater. „So                           verwehrt, so oft genommen wurde und wird. Darum
            werde ich nie!“, sagte mein Bruder am Morgen da-                                    sollte es in seinem neuen Stil auch gehen, der überra-
            nach. Das zu verwirklichen ist schwer. Erst einmal                                  schend und absolut up-to-date daherkommt, aber dem
            muss man dazu selbst 50 Jahre alt werden. Was zu-                                   Tragenden die Würde, die Dignity des Alters lässt. Und,
            nächst ganz unvorstellbar, dann immer noch viel zu                                  weil die Mode ein Spiel ist, sollte es nicht zu viel kosten.
            weit weg erscheint, und dann, plötzlich, doch passiert.                             Teure Sachen bedrücken. Oft sehe ich ihn nun an sei-
            Und man darf nicht zu rund werden. Das ist ganz ein-                                nem Schreibtisch sitzen, spät abends, und nähen. Die
            fach: man isst nicht mehr viel. Und man sollte keine                                Kleidung  individualisieren,  Markenamen  entfernen,
            Sachen tragen, die zu erwachsen, zu seriös, zu ernst                                auch, ab und an, zu „jugendliche“ Kleinigkeiten weg-
            wirken. Das ist schwierig, weil ganz subjektiv. Und                                 nehmen. Da geht nicht mehr alles, es ist ein Abwägen,
            man sollte sich die Seele eines Kindes bewahren. Das                                Antesten, auch Verwerfen. Mein Bruder sagte mir, sein
            ist das Schwerste. Kleidung! Die erste Wohnung, die  Foto: Benjamin Reding          neuer Look, das solle Kleidung für „Grown up Kids“
            zweite Haut. Wilde Theorien schwirren, warum man                                    (G.U.K., gesprochen „guck“) sein. Erwachsene Kinder.
            sie überhaupt trägt. Als Schutz gegen Regen, Kälte,                                 Und das wolle er sein, erwachsen, mit dem Werk, dem
            Hitze, Schnee. Aber die Frage sei zumindest erlaubt, warum sich dann Mäuse nicht we-  Eindruck, der Erfahrung der Jahre, aber ein wie Kind in der Entdeckerfreude, der Lust
            nigstens in Herbstblätter und Hunde in die alten Mäntel ihrer Besitzer hüllen, wenn sie  am Spiel, auch dem Überwinden eigener Ängste. (Um den Spannungsbogen zum G.U.K.-
            der Regen wieder mal in triefende Monster verwandelt? Würde der Homo sapiens aus-  Look nicht zu überdehnen: Der sieht zum Beispiel aus wie auf dem Kolumnenfoto, als
            sterben, wenn er nackt herumliefe? Der Pfarrer predigt, man trüge Kleidung aus „natür-  mein Bruder Anfang Juli mit der neuen U-Bahnlinie 5 bis zur Station „Museumsinsel“
            licher Scham“, als Schutz gegen die Blicke der Anderen, quasi als textilen Keuschheits-  fuhr). Begegnungen wie mit dem Afroamerikaner erlebt er jetzt öfter. Er wird angeschaut,
            gürtel. Der Anthropologe sagt, als Überlebensschutz, wie mitspazierende Hauswände,  fotografiert, bestaunt, mal kritisch, oft aber anerkennend, oft von den People of Colour,
            gegen alle Unbill der Natur. Aber wenn dem so wäre, sähen dann nicht alle Häuser wie  die sich darin wiedererkennen, den Respekt vor ihrer Kultur spüren. Ein Modescout
            Garagen und alle Kleidungsstücke wie Mehlsäcke aus? Nein, Kleidung, diese erste Woh-  eines Internethandels sprach ihn an, er solle doch „Influencer“ werden, mit diversen So-
            nung über der Haut, ist der direkteste Ausdruck von Kreativität, von Gestaltung, von De-  cial-Accounts, Star der Internetszene, das 50-jährige „Grown Up Kid“, mit Millionen
            sign. Und ja, auch von Lust und Spiel, also vom Zentrum, das unser Menschsein aus-  Klicks ..., 100.000 Likes ..., die ersten Nachahmer in Tokio; Dubai, Chongqing, Titelseiten,
            macht. Und das mindestens seit den verschieden gemusterten Fellen auf Ötzis 5000  eigene Kollektion, Geld, Fame, Blitzlicht und ... HALT! Es ist ein Spiel, der Look meines
            Jahre altem Wintermantel. Nur die Architekten, die sonst so vieles entwerfen, von der  Bruders, und soll es auch bleiben, ein Spiel. Vor ein paar Tagen, beim Umräumen aller
            Mokkatasse bis zur chinesischen Millionenmetropole, sie meiden die Kunst der Kleidung  Kleidungsstücke, fiel mir etwas in die Hände, ein maschinell gestrickter Pullover, runder
            und mehr noch ihrer Vollendung: der Mode. Keine Kulka-Strumpfhosen, Herzog-Hemden  Kragen, Fledermausärmel, mint-grün, das Label heftete noch im Kragen: „Chaos“. Ben
            und De Meuron-Mäntel im Sommer-Sonderangebot, keine karierte Unterhose von O. M.  zog es über, die Säume ausgefranst, der Stoff porös, die Ärmel ausgeleiert, aber es passte
            Ungers, kein kleines Quergestreiftes von Ettore Sottsass, kein Tadao Ando-Nachthemd,  noch! Und, wenn ich hier in Berlin aus dem Fenster gucke, es liegt wieder voll im Trend.

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