Page 50 - AIT0718_E-Paper
P. 50

REDINGS  ESSAY

                                                                   DER




                                          UNVOLLENDETE






                                                                Ein Essay von Dominik Reding




               V   ier Elefanten zogen voran. Dann kamen die Eunuchen. In purpurnen Gewändern, mit  Aber  wir sahen sie nie.  Wir  wohnten bei der Großtante, eine Etage tiefer. Akkurate
                   Perlen im Haar. Dann Pulcheria, seine Schwester, in einer Tunika aus indischer Seide
                                                                             Wohnkultur mit Schrankwand, Tischtüchern und Sofakissen. Nur der schwere, beißende
               und Aelia, seine Gemahlin, gekrönt mit dem Rubin-Diadem der Kaiserin Helena. Dann die  Holzkohlegeruch, der über ganz Istanbul lag, ließ sich auch hier nicht vertrei ben, wie ein
               400 persischen Sklaven, in silbernen Rüstungen. Dann zehn Kamele, acht Dro medare,  Eindringling, ein archaischer Bauer, der zwischen den Lackmöbeln und Tep pich böden am
               sechs Zebras, vier Bären und zuletzt, vom Kaiser selbst an ledernen Riemen ge hal  ten, zwei  Lagerfeuer hockt und erjagte Hasen grillt. Kadirs ganze Familie lebte hier. Ein schmales
               Löwen und zwei Leoparden. Theodosius lächelte nicht, schwankte nicht, schwitz te nicht.  betoniertes Fünf-Etagen-Haus mit einem Wassertank auf dem Dach. „Wegen der Dürre im
               Die letzten Meter ging er zu Fuß. Die glatten Stufen hinab zum Marmara-Meer. Die Menge,  Sommer“, übersetzte Kadir seine Großtante. Dann fiel der Strom aus. Und ging wieder an.
               vieltausendköpfig, starrte atemlos. Kaiser Theodosius schaute hinaus aufs Meer, schloss  „Das passiert öfter“, erklärte die Großtante. Sie servierte Tee, so schwarz und rauchig wie
               die Augen, betete, drehte sich zur Menge um und rief: „Hier wird er stehen, mein Palast.  der Kohle-Geruch über Istanbul. Präsident Atatürk war auch da. Er hing an der Wand. Gütig
               Jetzt und für immerdar!“ Dann kniete er nieder, strich mit der Hand über die Felskante  lächelnd, als verblichene Schwarz-Weiß-Fotografie. Kadir sagte, er wol le mir nun Istanbul
               und küsste sie. Die Menge schrie auf, es gab Ohnmachten, vereinzelt wurde geweint.  zeigen. und wir gingen hinaus in den Regen und Rauch der Stadt. Auf dem Weg sprach er
               Das Modell liegt hinter meinem Bücherschrank, die Altstadt von Istanbul, Maßstab 1:500.  von Ernst Jünger, wie er die Artillerie-Angriffe auf Paris durch den Schliff eines Sektglases
               Die Minarette sind abgeknickt, die Farben verblichen, die Kuppeln der Styrodur-Mo scheen  bestaunt hatte, und vom Dichter Malaparte und seiner rationalistischen Villa auf Capri, die,
               mit Staub bedeckt. Es sollte der große Entwurf werden, die Zulassung zum Diplom. Die  so zitierte er den Dichter, „ernst, hart und streng“ sein sollte, „wie er selbst“. Er stieg mit
               Idee war vermessen. Eine Mediathek in der Alt -                                          mir in die be rühmte Palast-Zisterne, mit ihren
               stadt von Istanbul, direkt zwischen Hagia So phia                                        römischen Säulen und umgestürzten Mar-
               und den Resten des Bukoleon-Palastes. Aber der                                           morköpfen, er präsentierte mir Kemal Atatürks
               neue Professor für Bauentwurfslehre suchte                                               Sterbezimmer im Dolma bah ce-Palast, in dem
               nach Talenten und legte die Messlatte hoch. Sein                                         alle Uhren in seiner  Todes stunde angehalten
               Architekturbüro arbeitete an einem ähnlichen                                             worden  waren und  führ te mich in das
               Projekt für Abu Dhabi. Was boten die anderen                                             Konzerthaus am Taksim platz zur Aufführung von
               Lehrstühle? Ein Rathaus in Rott weil, eine Rei -                                         Bruckners vierter  Sym phonie.  Am  vierten Tag
               hen haussiedlung in Essen-Kray und ein Senio -                                           endlich besuchten  wir  den Bauplatz der Me -
               ren heim am Tegernsee. Natür lich entschied ich                                          diathek,  eine ver gessene Grünfläche  vor den
               mich für Istanbul. Und eine Handvoll Uner schro -                                        Resten des Buko leon-Palastes. Hier gab es keine
               ckene taten es auch. Wie Kadir. Das war eine Er -                                        Touristen, kaum Verkehr, nur das Klatschen der
               mutigung, nein, es war eine Heraus for derung.                                           Wellen gegen die algengrünen, erdbebenver-
               Ka dir gehörte  zur Elite, den besten des Jahr -                                         schobenen Kaimauern und den Geruch  von
               gangs. Er las Tolstoi, Ernst Jünger und Yukio Mi -                                       Schiffs diesel, saurer Milch und  vergorenem
               shi ma, liebte die Kunst der italienischen Futu -                                        Fisch. Vom Palast standen nach Kreuzrittern, Os -
               risten und die Bauten der fran zösischen Revolu -                                        ma nen und dem Bau einer Eisenbahntrasse nur
               tions architekten, hörte Mu sik von  Mahler,                                             noch Kellergewölbe, eine Handvoll Außen-
               Bruckner und Franz Liszt und war, wie eine Lehr -                                        mauern und von der Sonne ausgeglühte mar-
               stuhl-Assistentin in einem Moment selbstver -                                            morne Türrahmen und Fensterlaibungen. Ich trat
               gessener Bewun de rung feststellte, „schön  wie  Grafik: Benjamin Reding                 näher und hörte Stimmen. Alle diese stei nernen
               ein Märchenprinz“. Wenn er sprach, hörte man                                             Rechtecke waren bewohnt. Plas tik tüten ersetzen
               hin, nicht nur, weil es klug war, sondern wegen                                          Eingangstüren, Gaskocher die Heizung, Kerzen
               des Klangs. Jeden Vokal, jeden Konsonanten ließ er wie eine Delikatesse zwischen Zunge  das elektrische Licht. Kadir ging daran vorbei, als habe er es nicht bemerkt. „Wer wohnt
               und Gaumen zerschmelzen. Niemand sprach Deutsch so wie er. Er liebte diese Sprache. Er  hier? Kurden?“ Ich weiß nicht, warum ich es sagte, warum ich gerade auf die Kur den kam.
               war nicht mit ihr aufgewachsen. Er hatte sie gelernt. Kadir aus Istanbul, Kadir aus der  Vielleicht, weil sie unterdrückt werden, weil sie arm sind, weil man in der Tages schau von
               Hochhaus-Siedlung in Köln-Kalk, Kadir mit dem persischen Namen: Der Bezwinger.   ihnen hört. Seine Augen wurden schmal, sein Märchenprinz-Gesicht hart. „Es gibt keine
               Ich zeichnete den ersten Entwurf, es sah aus wie eine schwache Kopie von Zaha Hadid. Ich  Kurden.“ Er schüttelte den Kopf  verwundert, ja  verärgert über so  viel Dummheit.
               zeichnete einen zweiten Entwurf. Es sah wieder aus wie von Zaha Hadid. Ich machte  „Kurdistan ...“, er behielt das Wort im Mund wie Gift, „... was ist das?“ Kadir schaute mich
               Pause, baute das Modell, einen Monat lang in der Sommerhitze meiner Dachkammer, und  an mit seinen ernsten, edlen, jetzt zusammengekniffenen Augen, suchte, prüfte, forschte.
               zeichnete den dritten Entwurf. Es sah immer noch aus wie eine schwache Kopie von Zaha  Und erkannte mich und meine Nähe zu den Schwachen. Er lachte auf, erst spöttisch, dann
               Hadid. Kadir machte es besser, er zeichnete nichts. Und sagte: „Lass es uns erst an -  enttäuscht, dann fasste er sich: „Lass uns gehen.“ Zwei Tage trotteten wir durch Istanbul,
               schauen.“ Es war kalt in Istanbul, Regen und schneidender Wind zogen vom Meer her über.  besuchten die Blaue Moschee und die Hagia Sophia und spielten Minigolf. Im Flugzeug
               Im Flughafen hörte ich Kadir das erste Mal Türkisch sprechen. Als einer der uniformierten  zurück sagte ich, es darf keine Mediathek sein, man muss dort Wohnungen bauen, viele
               Stahlhelmträger das dritte Mal unsere Pässe prüfte. Es klang so charaktervoll wie sein  Wohnungen, mit Bad und Küche und Strom, bezahlbar für jedermann. Kadir sah aus dem
               Deutsch. Kadir lächelte und entschuldigte den harschen Auftritt seines Lands manns. Wir  Fenster, las und schwieg. Nach der Landung in Köln gab er mir höflich die Hand. „Ich
               fuhren mit dem Taxi bis zum Haus seiner Großmutter. Jene, die mit Atatürk getanzt hatte.  melde mich“, sagte er und tat es nie wieder.


               050  •  AIT 7/8.2018
   45   46   47   48   49   50   51   52   53   54   55