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1927             Weißenhofsiedlung in Stuttgart – aus Innen-Dekoration 12/1927
                                     Oft als die Goldenen Zwanziger beschrieben, galt der Wohl stand doch nur einem kleinen
                                     Personenkreis: Der Großteil der Bevölkerung lebte in armen Verhältnissen, sodass Woh -
                                       nungen und Grundrisse wesentlich kleiner ausfielen als die Wohnhäuser der Jahr hun dert -
                                       wende.  Zugunsten  einer  neuen  Sach lichkeit,  die  insbesonde re  das  1919  von  Walter
                Christine Schröder   Gropius gegründete Bauhaus prägte, wurde zugleich auf reiche grün derzeitliche Ver zie -
                AIT-Redakteurin      rung   en verzichtet. An geballter Radikalität unübertroffen kam die se beinahe asketische
                                     Haltung in der Stuttgarter Werk bundausstellung „Die Wohnung“ 1927 zum Ausdruck: Un -
                                     ter anderem die Bauhausprotagonisten Gropius und Mies van der Rohe realisierten hier
                                     neben Le Corbusier in der Weißen hof siedlung aufs Minimum redu zier te Wohn for men,
                                     die unter Fachleuten sowie der allgemeinen Bevölkerung heftige Diskussionen entfachten.

                                                                                                                                1933
                                                                              Haus Schminke in Löbau – aus Innen-Dekoration 1/1934
                                                                              Die 1930er-Jahre sind angefüllt mit Widersprüchen. Das Jahrzehnt, das mit der Ver öffent -
                                                                              lichung der Antikriegs-Romane Erich Maria Remarques beginnt, endet mit dem Zweiten
                                                                              Welt krieg. In Deut schland entstehen in dieser Zeit nicht nur nationalsozialistische Mono -
                                                                              men talbauten, sondern auch ikonische Bauwerke der Klassi schen Moderne. Eines der
                Henriette Steuer                                              wich tigsten Wohn gebäude des Neuen Bauens ist die Villa Schminke von Hans Scha -
                AIT-Volontärin                                                roun.  Geschwungene Linien, offene Raumstrukturen, große Glasflächen und ein maßge -
                                                                              schneiderter  Innen aus bau  bestimmten  das  1933  fertiggestellte  Wohn haus.  Die  Innen -
                                                                              Dekoration, erhält sich in dieser politisch heiklen Dekade ein Stück losgelöste Architek -
                                                                              tur begeisterung und lobt die Villa 1934 in einem 12-seitigen Beitrag: „Ein Haus ohne
                                                                              Dogmatis mus, (...) zum glücklichen Leben, ein bürgerliches, ein familiäres Sanssouci.”

                                                                                                1948
                                     Atelier Paul Stohrer in Stuttgart – aus Innen-Dekoration 5/1948–49
                                     Zerstörung und Wiederaufbau liegen in den 1940er-Jahren dicht beieinander. Während im Krieg ganze
                                     Städte durch die Luftwaffe zerstört werden, beginnt nach 1945 der Wie der aufbau. Wohnraum ist knapp
                                     und die Innen-Dekoration wird geprägt von Entwürfen für Be helfs heime, Fertig- sowie Reihenhäuser – so -
                                     gar ein Wohnnot-Hotel-Entwurf ist zu sehen – und platzspare nde Raum  lösungen gehen einher mit multi-
                Regina Schubert      funktionalen Möbeln. Aber auch ein paar Archi tektur realisierungen in Deutschland sind zu finden. Wie
                AIT-Volontärin       das Atelier von Paul Stohrer in Stuttgart. Der Architekt erweitert 1948 sein Eigenheim um einen Anbau
                                     in Form eines Garten hauses. Rote Ziegel, Holzfachwerk und Biberschwanz dachdeckung be stimmen den
                                     An bau.  Innen werden  Wände  und  Decke  mit  Strohmatten verkleidet  und  für  den  Kamin innen  raum
                                     Trümmersteine verwendet. Die natürliche Materialität und spartanische Ausstattung sind re prä  sen tativ
                                     für diese Zeit. Im folgenden Jahrzehnt prägten Stohrer essenziell die Stuttgarter Nachkriegs architektur.

                                     1955                    Villa Kronish in Kalifornien – aus Architektur und Wohnform 1/1957

                                     Wer denkt bei den 1950er-Jahren nicht an Nierentische, Resopaloberflächen und Tapeten? Wieder auf -
                                     bau, hoher Bedarf an günstigem Wohnraum und der Versuch, sich vom Wuchtigen des Neo klas si zis  mus
                                     der NS-Zeit abzuheben, prägten die Epoche. Heute werden Gebäude aus dieser Zeit oft als Bau sün den
                                     bezeichnet. Aber auch Elemente der Klassischen Moderne wurden aufgegriffen und weiterentwickelt.
                Marlene Asenbeck     Ein bedeutender Vertreter der amerikanischen Nachkriegsmoderne war beispielsweise Richard Neutra.
                AIT-Praktikantin     Zwischen Alexander Koch und dem Architekten bestand enger Kontakt und schließlich publi zie rte die
                                     Verlags an stalt Alexander Koch Neutras „Mensch und Wohnen“ (1956), das zu einem der erfolgreichsten
                                     Buchpublikationen des Verlags zählt. Ein Jahr davor, also 1955, entstand die größte von Neutra in Süd-
                                     kalifornien geplante Villa für die Familie Kronish. Großflächige, verschiebbare Fenster paneele und ver-
                                     glaste Innenhöfe lassen hier die Grenzen zwischen Innen- und Außenraum verschwinden.

                                                                                                                               1966
                                                                              Haus Beck-Erlang in Stuttgart – aus Architektur und Wohnform 3/1968
                                                                              Während die 1950er-Jahre vom Wiederaufbau geprägt waren, sind in den 1960er-Jahren
                                                                              Wohnraumnot und Materialmangel des Zweiten Weltkriegs größtenteils überwunden.
                                                                              Die Innenräume werden groß zügiger und großformatige Fenster, Flachdächer sowie Be -
                                                                              ton bestimmen die Architektur. Auch die Architekturströmung Brutalismus oder Béton
                Franziska Langner                                             brut – geprägt von Le Corbusier – setzte sich nun endgültig durch. Das Privathaus und
                AIT-Online-Redaktion                                          Büro des Architekten Wilfried Beck-Erlang in Stuttgart steht stellvertretend für diese Zeit:
                                                                              1966 vollendet, wird es von der charakteristischen offenen Raum konzeption der späten
                                                                              Moderne geprägt. Für Erlang, der auch das Planetarium der Stadt plante, war der Entwurf
                                                                              ein Selbstversuch zum Thema Wohnen in der Stadt. Weiterhin bewohnt, haben sich
                                                                              heute zu sätzlich eine Werbeagentur und eine Freie Kunstschule darin niedergelassen.



                                                                                                                             AIT 7/8.2017  •  073
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