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REDINGS ESSAY



                         WENN ICH AUSGEHE!







                                                            Ein Essay von Dominik Reding






           I  ch gehe gern aus. Früher öfter. Gerne in Restaurants, gerne auch in Kneipen, weniger   sen, endlich selbstständig. Das Förmliche lag uns nicht. Diese Welt der Silberbestecke,
                                                                         der Fischmesser, der Serviettenringe, der gestrengen Oberkellner. In der Altstadt, bei
             gerne in Bars, noch weniger gerne in Hotel-Bars, gar nicht gerne in Hotels.  Weder zum
           Essen, noch zum Trinken, noch zum Schlafen. Warum? Warum diese Reihenfolge? Warum   den Hauptkirchen, machte ein Mövenpick Marché auf. Festpreise und Selbstbedienung.
           diese Präferenzen? Also, der Reihe nach. Erst ging mein Vater mit mir aus, nicht allein mit   Ordentlich, übersichtlich, sauber, nach Schweizer Art. Hier ließ es sich aushalten, hier
           mir, immer mit der kompletten, fünfköpfigen Familie. Er liebte es förmlich, gutbürgerlich.   konnte man unter alten Kastanien draußen essen, hier würden sich auch Studienkolle-
           Erst die Gaststätten der Vorstadt-Nachbarschaft: dicke Tischtücher, Stoffservierten, Dru-  ginnen und -kollegen gut behandelt vorkommen. Und zum Trinken? Ich, wir, die Kom-
           cke im Goldrahmen, Silberbesteck, paniertes Schnitzel mit Jägersoße. Fast regelmäßig,  militonen waren ja schon alt genug. Auch da kommt bei mir die väterliche Prägung ins
           sonntags, nach der Kirche. Wir drei Kinder liebten diese sonntäglichen Ausflüge, wegen   Spiel. Er kannte und besuchte noch, soweit vorhanden, die klassischen Bergmannspin-
           des Essens und vor allem wegen der schweren Jägersoße. Und dem Gastwirts-Huhn. Das   ten. Häuser: vorherige Jahrhundertwende, Boden: Kacheln, Wände: schlicht holzgetäfelt,
           residierte in einem einfachen, vom Gastwirt selbst erbauten Käfig, draußen, neben den   Decke: Stuck, je nach Budget und Zeitgeschmack mal Jugendstil, mal Reform. Zu essen
           Parkplätzen. Wir hielten das Huhn für ausgestopft, für eine Puppe. Es bewegte sich nie,  gab es Erdnüsse und Salzstangen. Zu trinken: Bier, Pilsener Brauart, und Korn, kurz
           hockte auf seiner Stange, starr. Bis es einmal, in einem plötzlichen Anfall von Lebensmut,   und klar. Die Gäste: Bergleute, genauer: Berginvaliden. Mit steifen Beinen, gebrochenem
           hektisch aufflatterte.  Wir schrien in einer Mischung aus Lust und Angst. Es war der letzte   Rückgrat oder Steinstaublunge. Sie husteten und tranken schweigend ihren Alkohol, um
           Besuch im einfachen Landgasthof. Wir wurden älter und durften die Eltern nun in die   den Rest Leben auszuhalten. Dazu das Plätschern der Spüle und das sonore Brummen
           Innenstadt begleiten. Und zum Essen kam etwas Neues, Exotisches hinzu: Architektur!  der Eistruhe. Diese ersten Eindrücke von dem, was Kneipe ist oder sein kann, die präg-
           Die Restaurants in der City glänzten mit Zeitgeist, mit Ideen, mit Spielereien: Treppen aus   ten mich, ließen mich später die angestrengt-angesagten Szenekneipen meiden. Bars
           Plexiglas, Sitzecken aus gelbem PVC, Rechnungen auf Lochkarten. Ein neu eröffnetes Res-  besonders, mit ihren Ansprüchen. Dieses Mixgetränk, jener Cocktail, dieser Longdrink,
           taurant glänzte gar mit einer Showküche. Den Köchen, ganz                         jenes Glas Blue Curacao. Dabei ist es Alkohol, letztlich
           akkurat „köchisch“ eingekleidet, durfte man beim Zuberei-                         nur Alkohol, mit seiner schönen, mitunter gruselig-bene-
           ten der Speisen zusehen! Sie taten immer so, als bemerkten                        belnden Wirkung. So blieben es für mich, oft zur Enttäu-
           sie es nicht. Und vor dem Breitwand-Fenster zur Küche: das                        schung und Irritation meiner Gäste, die einfachen Kneipen
           liebevoll dekorierte, üppige Salatbüffet. Abgerechnet wurde                       und manchmal gar die verrauchten, gelblich angelaufenen
           nicht nach Gewicht, sondern nach Schüsselgröße. Wir über-                         Kaschemmen als finaler Ort für Vertragsunterzeichnungen,
           boten uns in Gleichgewichtsstudien. Selbst die Bedienung                          für erste Meetings und letzte Umarmungen. Noch widriger
           schaute mal beeindruckt, mal verärgert auf die gekonnt                            sind für mich die Hotels: Orte der erzwungenen, honorier-
           gehäuften Salattürme.  Wir genossen dieses städtische                             ten Zuneigung. Je besser sie gespielt wird, umso wohler
           Restaurantangebot, das einem Architekturführer glich: ein                         fühlt man sich als Gast. Und kommt wieder und zahlt gerne.
           Opernrestaurant, sachlich-nobel von Heinrich Rosskotten                           Ach, würde man wirklich gemocht, geliebt gar, man bekä-
           1963 bis 1966 eingerichtet, ein Café einer Gartenbauausstel-                      me das Zimmer und auch das Essen und alles, wofür ein
           lung als Stahlkonstruktion von den Lokalgrößen Lehmann                            Hotel Sterne sammelt, geschenkt. Darum die Reihenfolge,
           Kellergeschoss. Die Tische aus Glas, Flokati-Teppich an den  Foto: Benjamin Reding  das Essen gut und der Preis angemessen ist, Kneipen auch
           und Groth durchsichtig-leicht 1959 erbaut und ein Versi-
                                                                                             persönlich und subjektiv: Restaurants, oft und gerne, falls
           cherungshochhaus von Harald Deilmann 1969 bis 1973, mit
           einem mondänen, wirklich großstädtischen Restaurant im
                                                                                             gerne, falls sie authentisch und ungezwungen sind und sie
                                                                                             ihren Sinn nicht ganz vergessen haben: Alkohol in vertret-
           Wänden, spanisch anmutende Fliesen am Boden. Auch wenn uns die Namen der Architek-  baren Mengen zu vernünftigen Preisen anzubieten. Bars nicht so gerne, weil sie das Alko-
           ten noch nichts sagten, das Essen dort – Rumpsteak „medium” mit Königinnen-Kroketten   hol-Verkaufen zu einer Kunst stilisieren, und Hotels gar nicht gerne, weil hier die Glaub-
           und zerlassener Kräuterbutter – war jeden Besuch wert. Dachten wir. Bis uns das Schicksal   würdigkeit der Lüge honoriert wird. Heute bekomme ich Besuch. Von einer ehemaligen
           ereilte. Vater hatte in allen mittelpreisigen, gutbürgerlichen Restaurants stets still gezahlt,   Studienkollegin. Sie macht wilde und auch ein bisschen anstrengende Avantgardefilme in
           in bar, wie üblich. Aber wir hatten etwas nicht bemerkt: Der Mittelstand, für den all diese   Super-8. Ich denke, ich werde mit ihr erstmal ums Eck zum Essen gehen. Vietnamesisch.
           Gastro-Betriebe erdacht worden waren, der löste sich auf. Nur noch Döner, Schaschlik  Das Restaurant war mal ein Döner-Laden, bis vor ein paar Jahren eine vietnamesische
           und Burger für „unten“ und Feinschmecker-Gourmet-Restaurants für weiter „oben“. Für   Familie mit Sinn fürs Kochen und Innenarchitektur das abgetakelte Ding übernahm. Mit
           die Mitte der Gesellschaft blieb nur Köttbullar bei Ikea oder das Puten-Sandwich in der  etwas Anthrazitfarbe, Baumarktpaletten,, einer einfachen, aber offen einsehbaren Küche
           Bahnhofsbäckerei. 79,- DM. Der Kellner legte, wie immer distinguiert-kommentarlos, die   und asiatischer Höflichkeit schufen sie, fast beiläufig, einen Wiedergänger der Restau-
           Rechnung auf einem Altsilbertellerchen auf den Architektentisch. Vater ließ es sich vor-  rants meiner Jugend. Gutes Essen zu erschwinglichen Preisen in „modernem“ Ambiente.
           rechnen, er rechnete nach, zweimal, dreimal, es stimmte. Er hatte nicht genug Bargeld  Danach werde ich sie ins „Pirscher“ einladen. Das hat nichts mit Jagd oder kriegerischem
           dabei, er konnte nicht zahlen. Dazu noch am Wochenende, die Banken geschlossen. Vater   Heranpirschen zu tun, sondern nur mit dem Familiennamen der Wirtin. Es gibt Nüsschen
           ging los und wir mussten blieben, als menschliches Pfand. Erst nach einer Stunde kam er   und Salzstangen gratis und ein gutes, von einer kleinen Brauerei vor Ort gebrautes Bier.
           zurück und zahlte. Woher er das Bargeld beschafft hatte? Ich weiß es bis heute nicht, aber   Dazu wird laut geredet und noch lauter gelacht. Und geraucht werden darf hier auch
           ich weiß, wie die Familienessen nach diesem akuten Zahlungsausfall aussahen: Es gab  überall. Wenn wir danach noch etwas Zeit übrig haben, dann gehen wir ins „Kater Blau“.
           keine mehr. Die Schmach war zu groß. Jetzt veränderte sich die Stadt, und wir veränderten   Da kann man im Keller tanzen, zu Techno und House, bis der Morgen graut. Wie wird es
           uns. Die Architekten-Restaurants verschwanden und oft auch mit ihnen die Gebäude. Die   ihr gefallen? Am nächsten Morgen, wir frühstücken noch in der türkischen Bäckerei bei
           Restaurantketten kamen, von Vapiano bis McDonalds. Und wir kamen, endlich erwach-  mir im Haus, sagt sie es: „Oh, es war fantastisch. Gar nichts wie sonst!“

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