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REDINGS ESSAY
HUMMER
IN ORANGE
Ein Essay von Dominik Reding
W ie vergessen muss etwas sein, an das nicht einmal mehr beim Abriss erinnert Dahinden entworfen worden waren. Und beide waren damals ganz und gar unbeliebt.
wird? Dabei war das Abgerissene einst bekannt, ja berühmt. In Architektur-
Die einen, weil sie vis-à-vis eines Barockschlosses soviel Beton ausgegossen hatten und
führern wurde es erwähnt, im Fernsehen gezeigt, im „Merian“ in Farbe präsentiert. der andere, weil seine wilde Lust am Material, seine knallige Farbskala und seine un-
Und heute? Selbst im Internet sucht man danach vergebens. Es verschwand zerhäck- gezügelten Designideen so gar nicht mehr in die Zeit des „No Future“ und der archi-
selt und geschreddert zusammen mit seiner Behausung, dem Kleinen Schlossplatz. tektonischen Askese passen wollten. „Dieser Verrückte“ sagte unser Baukonstruk tions-
Auch ich würde es nicht kennen, hätte mich nicht ein Zufall hingeführt. Aber war es Professor und zeigte grinsend ein Dia von Dahindens hölzernem Pyramiden-Ferienhaus
ein Zufall? Oder doch Schicksal, Bestimmung, ein unvermeidlicher Zwang? am Rigi-Bergmassiv. Später, noch viel später erfuhr ich, dass der Chef und Erfinder der
Stuttgart im Hochsommer, die Hitze staute sich im Tal. Vier Stunden hatte ich Aufenthalt, Mövenpick-Restaurants ein gelernter Hotelier aus Zürich namens Ueli Prager war, der,
vier Stunden bis zum Anschlusszug Richtung Bodensee. Fahrradtour mit den Cousins. als die anderen Gaststättenbetreiber noch mit livrierten Oberkellnern, endlosen War-
Lange geplant, sicher sehr aufregend. Mit 15 ist jede größere Stadt eine Großstadt, und tezeiten und Innenausstattungen mit dem gestalterischen Charme ehrwürdiger Beer-
Stuttgart kam mir Provinz-Teenager sehr großstädtisch vor. Schon dieser Bahnhof! In die digungsinstitute daherkamen, in die Eingänge seiner Mövenpicks wandhohe Aufnah-
Halle passte mein ganzes Heimatdorf locker fünfmal hinein. Wie von selbst geriet ich in men des Hippie-Starfotografen Will McBride montieren ließ, der Geruchskonzepte für
eine U-Bahnpassage, kletterte irgendwo ans Licht, fand mich zwischen schnittigen die Speiseräume entwickelte und vom Hummer (in orange-hinterleuchteten Aquarien)
1920er-Jahre-Gebäuden wieder und trabte durch die starre, unbewegliche Hitze der bis zum Sitzleder und den Wandhölzern ihre olfaktorische Wirkung kalkulierte, der in
Königstraße, wie von einer fremden, unnachgiebigen Kraft getrieben. Endlich, müde und den 1970er-Jahren Telex-Maschinen und leibhaftige Sekretärinnen zum Abtippen der
erschöpft, blieb ich vor einem Buchladen stehen, seine dämmrige Stille und klimatisierte Geschäftspost seiner Gäste bereit hielt, der opulente Schau-Küchen mit wechselnden
Kühle zog mich herein. Im Erdgeschoss gab es die Neuerscheinungen, im Obergeschoss Köchen aus exotischen Ländern installierte, der penibel saubere Toiletten mit Bossa-
das Antiquariat. Und ein billiges Büchlein für die Zugfahrt Nova-Klängen als Hintergrundmusik, Handwasserspü-
zu erwerben, das machte Sinn. Eines, es stand etwas ab- lung und Lufttrocknung auf Knopfdruck offerierte und
seits in einer Vitrine, fiel auf. Der Einband schimmerte selbst den Akt der Bezahlung zum Happening machte.
silbrig, die Typographie war modern, im Bauhaus-Stil. Es Gezahlt wurde die Rechnung mit Lochkarte an futuristi-
ähnelte einem Zeppelin-Buch, nach dessen zweitem Band schen Plexi glaskassen. Den kongenialen Créateur dieser
ich schon länger suchte. Ich öffnete die Vitrine, öffnete das sinnlichen Gastro-Welten fand Ueli Prager in dem jungen
Buch und schlug es sofort wieder zu. Schaute mich um, Architekten Justus Dahinden, dem er so viel gestalteri-
der Laden war sommerlich leer, und öffnete es erneut. sche Freiheit ließ, dass ein Quadratmeter Dahinden
1931, so teilte der Einband in seiner sachlichen Futura- heute als Ideen-Reservoir für mindestens vier, fünf kom-
Schrift mit, war es erschienen, in Leipzig, im „Anthropo- plette Restaurant-Einrichtungen reichen würde. So hatte
phyteia-Verlag für Urtriebskunde“ und zeigte und erklärte auch ich im „Red Spot“ den Hummer bestaunt, das Ze-
auf den folgenden 653 Seiten und „164 teils ganzseitigen Grafik: Benjamin Reding, nach einer Shunga-Zeichnung aus dem 18. Jh. dernholz gerochen und an der Plexiglaskasse bezahlt.
Abbildungen“ in aller Genauigkeit, was der Buchtitel an- Nun spielte ich im WC zu Bossa-Nova-Klängen abwech-
kündigte: „Das Geschlechtsleben des Japanischen Vol- selnd mit dem Fußknopf fürs Händewaschen und dem
kes.“ Ich blätterte und blätterte und fiel durch alle Re gal-, Handknopf für den Lufttrockner. An, Aus, An, Aus. Da er-
Vitrinen-, Etagendecken, Wände und Schranken, selbst innerte ich mich: der Zug! Ich rannte zum Bahnhof, lief
durch den Stadtplan mit Kellern, Kanalisationen und U- die Treppen in der Eingangshalle hoch, wie ein Schwim-
Bahnen, mitten hinein in eine andere Welt: offen, ehrlich, mer nach zu langem Tauchgang und sackte, der Schaff-
sinnlich, fremd, unzensiert, stark. Und restlos anderes als Fernsehen, Schule, Hausauf- ner pfiff schon, atemlos und nassgeschwitzt auf den Plastiksitz des Regionalzugs.
gaben und Kniebeugen im Sportunterricht. „Die Bücher aus den Vitrinen dürfen eigent- Längst sind der Kleine Schlossplatz und sein „Red Spot“ Geschichte. Eine andere Zeit
lich nicht angefasst werden.“ Ein Verkäufer näherte sich mit strenger Lehrermine. Und kam, mit anderen Themen: Wettrüsten, Waldsterben, Aids. Da war für den Mövenpick-
ich packte das Buch so schnell zurück, dass die Vitrine fast umkippte dabei. Lief hinaus Zeitgeist mit seiner grenzenlosen Zukunftseuphorie und seiner sinnlichen, ja fast ero-
auf die überhelle Königstraße, wurde wie von einer Surfwelle von ihr mitgenommen, tischen Architektur kein Platz mehr. Heute steht dort ein Museum, kühl, glatt und ma-
mitgetragen zurück Richtung Bahnhof und erwachte erst am Schlossplatz aus der urtrieb- kellos. – Vor ein paar Wochen sah ich es wieder. Am Straßenrand lag es, in einer Bü-
lichen Trance: Durst! Skater jumpten mit ihren Boards von einer dramatisch breiten, dra- cherverschenkkiste: Das „Geschlechtsleben des Japanischen Volkes“. Ich blätterte es
matisch hohen Treppe. Ich folgte den Stufen und fand mich in einer verschachtelten durch und spürte, so wundervoll aufregend wie damals mit 15 war der Inhalt nicht
Waschbetonwelt wieder, wo es selbst jetzt, in der quirligen Innenstadt und brütenden mehr. Aber die Gastronomie-Architektur von Justus Dahinden, die ist es geblieben!
Nachmittagssonne still und dämmrig war. Vor einem Lokal mit Tischchen und Stühlchen
und Schirmchen hockte ich mich hin, bestellte Cola „mit viel Eis“ und hörte den Puls in Eine Anmerkung zum Schluss: Die Kolumne war fast fertig und Herr Ivo Dahinden
meinen Ohren pochen. Und nur daran würde ich mich noch erinnern, hätte mich die hatte mich bei der Recherche freundlich unterstützt, da erreichte mich seine Nach-
Bedienung nicht gebeten, drinnen „an der Kasse“ zu bezahlen. Also öffnete ich die kreis- richt, dass sein Vater, Architekt Justus Dahinden, verstorben sei. Ich trauere mit Ivo
runde, rote Tür, auf der der Popart-Schriftzug „Red Spot“ prangte, und trat ein. Dahinden und danke ihm von Herzen für seine Hilfe und Auskünfte. Ebenfalls danke
Später, viel später im Architekturstudium sollte ich erfahren, dass die Schlossplatz- ich Herrn Walter Bernet vom Mövenpick-Firmenarchiv, der trotz einer gerade über-
Betoninsel von Kammerer & Belz, das Mövenpick-Restaurant „Red Spot“ von Justus standenen Corona-Erkrankung unermüdlich nach dem „Red Spot“ gesucht hat.
046 • AIT 6.2020