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REDINGS ESSAY
                               DAS KIND AM ZAUN






                                                               Ein Essay von Benjamin Reding




               D   er folgende Essay ist kein Essay; er ist eine Geschichte, eine richtige Geschichte, fast  täte er es zum ersten Mal. Sicher fragten ihn meine Eltern etwas, woher er komme, wie
                                                                             er heiße, aber ich erinnere mich nicht an seine Antworten, nur an sein aufmerksames,
                   ein Märchen. Und sie handelt nicht von gut gestalteten Restaurants oder angesagten
               Bars oder den neuesten Hotels, nicht einmal von einer Imbissbude, vom Couch-Surfing  vielleicht, wenn man es sehr genau nimmt, angespanntes Gesicht. Er sagte nicht viel, das
               oder dem Design eines Bierdeckels, und doch gehört die Geschichte ganz und gar hier-  Reden schien ihm nicht angenehm zu sein, lieber schaute er uns an, aß Bröckchen vom
               hin, in die AIT zum Thema Bar, Hotel, Restaurant. Die Geschichte spielt in der Vergan-  Kuchen und hörte uns drei Kindern beim fröhlich-aufgeregten Reden zu. Der Himmel zog
               genheit. Nein, nicht an der Festtafel der Hochrenaissance, und nein, auch nicht vor den  sich zu, aus dem Hellgrau wurde ein Dunkelgrau. Mutter deckte den Tisch ab, Vater fal-
               Kuchentürmen im Spiegelsaal von Versailles. Sie spielt 1972 in einer Reihenhaussiedlung  tete die Zeitung, die Spannung war verflogen, der Besuch, der, so schien es, ohne Zeit-
               am Rand einer Industriestadt. Ein Sonntag war es, im Spätsommer, der Himmel zur Mit-  druck und Ziel dasaß und blieb, hatte seine Bedeutung verloren. Papa schob die Antenne
               tagsstunde, sonnig, blau und wolkenlos. Wir, das heißt Familie R., bestehend aus Papa,  des Transistorradios zusammen und schlug uns vor, ihm noch „zum Abschluss“ unsere
               Mama und meinen beiden Brüdern, dem Großen, der unglaublich alt war, schon sieben  „Kinder-Beete“ hinter der Hausmauer zu zeigen. Klein waren die neu angelegten Beete,
               Jahre, und meinem Zwillingsbruder, vier Jahre, und mir selbst. Wir waren nicht wie sonst  aber auf dem Quadrat meines großen Bruders, da wuchs es ordentlich: Petersilie, Toma-
               jeden Sonntag zu „Schuckert“ gegangen. Nicht in diese einfache Gaststätte, die eigentlich  tenstauden und ein Birkenbäumchen, das er im Frühjahr dort gepflanzt hatte. Wir, die
               eine Kneipe war und an deren hohen, benagelten Tischen die alten Bergleute husteten  Zwillinge, zeigten unsere Quadrate, auf denen in Wahrheit nichts als Unkraut wucherte,
               und tranken, aber deren Hinterzimmer mit geblümter Tapeten, Silberbesteck und weißen  und erklärten nicht ohne Stolz, was dort alles angepflanzt sei und bald sprießen würde.
               Tischdecken ein wirkliches Restaurant sein wollte. Doch wir gingen heute nicht dahin,  Der Junge hörte still zu, etwas ernster vielleicht als zuvor, etwas unruhiger auch. (Aber
               wir blieben zu Hause. In unserem Reihenendhaus mit grauem Glasputz (wenn man ihn  vielleicht trügt hier die Erinnerung und will mir nur ankündigen, was in Wahrheit nicht
               zu fest berührte, schnitt man sich), großen Fenstern zum Garten, einer Terrasse aus Be-  zu spüren war). Dann deutete mein großer Bruder auf die junge Birke und erklärte, ruhig
               tonplatten und einem Jägerzaun. Und weil wir                                            und freundlich, wie er die Erde umgegraben, den
               zu Hause gegessen hatten, mit gefalteten Servi-                                         Boden gedüngt habe, und dass Birken recht viel
               etten und Römertopf und Eis für uns und für die                                         Wasser bräuchten und er sie deshalb täglich
               Eltern Moselwein, saß mein Vater nun auf der                                            zweimal gieße, jeweils vor- und nachmittags.
               Terrasse im Gartenstuhl (mit gelben Gummi-                                              Und wir hörten, beeindruckt von seinem Wissen,
               Riemchen), unterm Sonnenschirm (rot, mit wei-                                           zu. Auch der gleichaltrige, gleich große Junge
               ßen Punkten), las Zeitung (die dicke Sonntags-                                          lauschte, ohne ihn zu unterbrechen. Dann hob
               zeitung), hörte Radio (ein silbriges Transistorra-                                      der Junge still die Hand, er machte einen Schritt
               dio) und Mutter brachte (im guten Geschirr)                                             auf meinen großen Bruder zu und presste seine
               Orangensaft und Rhabarberkuchen nach drau-                                              Hand auf seinen Hals. Mein Bruder stolperte
               ßen. Und  wir Kinder saßen dabei, redeten,                                              nach hinten, über das Beet hinweg und stand
               aßen, tranken, lachten und spielten mit einem                                           nun mit dem Rücken gegen die Glasputzwand.
               zitronengelben Aufblasball. Die Details sind                                            Der Junge drückte zu, fest, ohne Unterlass. Er
               wichtig, sie sind die Reißzwecken,  zwischen                                            schaute nicht böse dabei oder zornig oder hass-
               denen sich die Erinnerung spannt. Dann, die                                             erfüllt, sondern ernst, ruhig, mit fester Bestim-
               Sonne verschwand hinter dünnen Wolken, der                                              mung. Er drückte ihm die Luft ab, bis meinem
               Himmel fiel ins Grau, stand da dieser Junge hin-                                         großen Bruder das Gesicht blau wurde und die
               ter dem Jägerzaun. Die Haare brav gekämmt,                                              Arme schlaff. Mein Zwillingsbruder und ich stan-
               die Arme aufgestützt und sah uns zu. Sah, wie                                           den dabei, erst unsicher, dann ängstlich, dann
               wir am Kuchen knabberten, Orangensaft tran-                                             vor Panik starr, denn wir verstanden, mit der Bru-
               ken, wie Mutter neue Kuchenstücke brachte,  Grafik: Benjamin Reding                     talität einer übergroßen Erkenntnis, wie ein Tritt,
               Vater seinen Söhnen Artikel aus der Zeitung er-                                         dass der Junge meinen großen Bruder töten
               klärte, besonders seinem Ältesten, denn der                                             würde. „Lass ihn los!“ Nicht ich, mein Zwillings-
               ging ja schon zur Schule. Sah, wie wir lachten und scherzten und mit dem Aufblasball  bruder handelte. Er hob seine Kinderfäuste und trommelte auf den Rücken des würgen-
               spielten, der schließlich zum Zaun rollte und wir den Jungen somit entdeckten. Vielleicht  den Jungen ein, voller wildem, kindlichem Zorn. Dann ließ der Junge tatsächlich los.
               war er sieben oder schon acht, aber sicher nicht älter, denn größer als mein großer Bru-  Einen kurzen Moment noch stand er da, als besänne er sich, als tauchte er vom Grund
               der war er nicht. Eine kurze Hose trug er, wie fast alle siebenjährigen Jungen damals,  eines tiefen, schwarzen Sees auf, dann lief er davon. Nun kam auch mein Vater, sah mei-
               einen Nicki-Pullover und ein blaues Jäckchen mit Reißverschluss, wie auch fast alle Kin-  nen großen Bruder von der Gewalt, dem Würgen gezeichnet und rannte dem Jungen wut-
               der damals. „Komm doch!“ Mein Vater deutete dem Jungen mit einer großzügigen, ein-  entbrannt hinterher. Aber, obwohl doch die Reihenhaussiedlung klein war und wir die
               ladenden Geste an, sich zu uns an den Tisch zu setzen, den Kuchen und Orangensaft zu  Menschen dort kannten, fand er den Jungen nicht. Nie mehr, denn er tauchte niemals
               teilen. Und einen kurzen Moment, nicht länger als die beiden Wörter „Komm doch!“  wieder auf. Sein blaues Jäckchen bewahrten wir noch zwei Jahre auf – bis zum Umzug,
               dauerten, schien es mir, als zögere mein Vater, als koste es ihn Überwindung, als wäre  dann warf Mutter es weg. Und jetzt geht es mir so, dass ich manchmal, wenn ich in
               er sich der Sache nicht sicher. Der Junge schwieg, stand unbeweglich. Und wie zur Be-  einem Restaurant sitze, in einer Bar, einem Hotel, und der Wein gut ist und das Essen
               kräftigung, zur Bestätigung der Entscheidung, erklärte mein Vater dem Jungen nun, wie  vorzüglich schmeckt und das Zimmer warm und sauber ist, und ich aus den Fenstern
               er ums Haus gehen müsse, um in unseren Garten zu gelangen. Der Junge verschwand,  auf die Straßen schaue und die Menschen vorbeilaufen in ihren Jacken und Mänteln
               und wir, ein bisschen gespannt sogar, warteten, dass er um die Ecke kommen möge, und  sehe, dass ich dann Angst bekomme. Unter den Leuten da draußen, da könnte doch die-
               das tat er auch. Etwas unsicher, aber doch zielstrebig ging er an den Tisch, setzte sich auf  ser Junge sein, mich hinter der Scheibe entdecken und hereinkommen, mich packen und
               den freien Gartenstuhl, zog sein Jäckchen aus, hing es ordentlich über die Lehne, um-  schütteln und sein Jäckchen zurückfordern und Kuchen und Saft und das ganze sonntäg-
               fasste mit beiden Händen ein Glas und trank den Orangensaft Schluck für Schluck, als  liche Familienglück. Aber das ist ja ganz unmöglich, das wäre ja verrückt, nicht wahr?


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