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ANHANG • APPENDIX  DENKWÜRDIGES DETAIL • CONSIDERED DETAIL


                DENKWÜRDIG






                ZU TISCH – VON KLAUS SCHMIDHUBER AUS MÜNCHEN ÜBER TISCHHÖHEN IN RESTAURANTS



                                                                              W    enn ich mit meiner Frau oder mit Freunden zum Essen gehen will, ist die erste
                                                                                   Frage:  Wohin? Dahin? Dorthin? Es soll ja schon  was Besonderes sein. Ein
                                                                              Erlebnis, das kulinarisch und atmosphärisch im Kopf bleibt. Das ist gar nicht so einfach.
                                                                              Sie: „Dahin? Da sitzt man so nett.“ Ich: „Aber das Essen ist den Besuch nicht wert.“ Sie:
                                                                              „Dahin!“ Ich: „Ach, das ist doch spießig und außerdem viel zu laut.“ Am Ende finden wir
                                                                              es zu Hause auch ganz schön, irgendwas zum Essen ist schon da. Das Ambiente spielt
                                                                              beim Essengehen eine große Rolle. Doch leider wird hier oft am falschen Ende geknau-
                                                                              sert. Wie in so vielen Bereichen des heutigen Lebens meinen viele Unternehmer, sie könn -
                                                                              ten sich fachlichen Rat sparen. Die Versuchung ist zu groß, auf Angebote der Brauereien
                                                                              zurückzugreifen  oder  auf  solche  der  Möbelmärkte  unter  Maßgabe  des  eigenen  Ge -
                                                                              schmacks. Stimmen muss der Preis in Relation zur Leistung. Hermachen soll es auch was,
                                                                              dafür leistet man sich ein bisschen Deko, möglichst haltbar und pflegeleicht, je nach
                                                                              Jahres  zeit wiederverwendbar. Viele Sitzplätze braucht man, um den Umsatz zu garan -
                                                                              tieren. Ja, das Sitzen! Neben dem Stehen, Gehen, Liegen ist es eine der grundlegenden
                                                                              Tätigkeiten des menschlichen Körpers. Er, der Körper, bestimmt mit seinen Proportionen,
                                                                              was Sitzkomfort bedeutet. Dieser resultiert, genau wie sein Gegenteil, aus dem Dialog mit
                                                                              dem Möbel. Wie in der Architektur ist uns das Gefühl für die Proportion abhanden gekom-
                                                                              men und muss mühsam wieder erarbeitet werden. Früher war alles eine Selbstver ständ -
                                                                              lichkeit,  über  die  niemand  nachdenken  musste:  Die  einfachsten  Leute  haben  sich  in
                                                                              Eigen arbeit die schönsten Häuser gebaut. Das Maß wurde vom Standort, vom Material
                                                                              und vom eigenen Körper bestimmt. Könige hatten Baumeister und Architekten als Berater,
                                                                              die ihr Wissen vor allem durch Erfahrung erworben hatten. Der menschliche Körper war
                                                                              bis zur Einführung des metrischen Systems buchstäblich das Maß aller Dinge. Längen
                                                                              wurden in Handbreite, Spanne, Elle, Fuß, Schritt, Klafter gemessen. Das Dezimalsystem
                                                                              hat sich davon unabhän gig gemacht, nicht nur zum Vorteil. Wie der Bezug zum Körper
                                                                              vernachlässigt wird, erlebt man bei Restaurantbesuchen. Ein Beispiel: Am Nebentisch
                So nicht (Bild oben) – der Tisch ist zu niedrig! Lieber so (Bild unten) – bequem am Tisch sitzend essen!  sitzen junge Leute. Sie schlürfen die Spaghetti, den Mund knapp über dem Teller – als
                                                                              wären sie in einer Suppenküche im tiefsten Asien. Es liegt nicht an der Kinderstube, es
                                                                              liegt am Tisch! Entweder er ist zu hoch oder der Stuhl zu niedrig. Ich sah, wie eine
                                                                              Highheels-Trägerin sich während des ganzen Dates mit dem Fuß am Stuhlbein festgehakt
                                                                              hat, um nicht nicht unter den Tisch zu rutschen. In meiner Jugend hätte man seine Füße
                                                                              unterm Tisch für andere Aktivitäten bereitgehalten … Aber das ist heute sowieso alles
                                                                              anders. Im einem anderen Lokal, einem mit Loungecharakter, versinken wir in einem
                                                                              weichen Sofa. Vornübergebeugt, die Knie unterm Kinn, dazwischen den Teller balan -
                                                                              cierend, versuchen wir, unseren Hunger zu stillen. Der Tisch ist viel zu niedrig und viel zu
                                                                              weit  weg.  Teuer  zu Buche schlagen dann die Reinigungskosten für die bekleckerte
                                                                              Kleidung. Na toll! Wo gehen wir denn jetzt hin? Ich wünsche mir ein Lokal, das von einem
                                                                              Profi eingerichtet wurde, von einem Innenarchitekten. Der hat in seiner Ausbildung ge -
                                                                              lernt, dass Bequemlichkeit mit den menschlichen Maßen zu tun hat. Die Beine sollen,
                                                                              mehr oder weniger rechtwinklig abgebogen, den Boden bequem erreichen, die Arme
                                                                              eben so auf dem Tisch ruhen können. Der Rumpf muss aufrecht sein können, damit die
                                                                              Speisen nicht in einen Stau geraten. Wenn man dies alles berücksichtigt, lässt sich der
                                                                              Abstand  zwischen  Tischkante und Stuhlhöhe als feste Größe leicht ermitteln. Die
                                                                              Materialien wünscht man sich authentisch und von angenehmer Haptik. Mithilfe von
                                                                              Materialien, Farben und Dekor lässt sich eine Erzählung zu einem Thema entwickeln, ob
                                                                              es um Berge, Meer, Kaiserin Sissi oder sonst was geht. Die Atmosphäre entsteht dann
                                                                              ganz von selbst. Ein guter Innenarchitekt kann die Vorstellungen des Wirtes aufnehmen
                                                                              und in eine räumliche Sprache übersetzen. Wenn dann auch noch die Qualität der Küche
                                                                              stimmt, wird es ein schönes, intensives Erlebnis an einem unverwechselbaren Ort, an das
                                                                             Fotos: Klaus Schmidhuber/Claudia Sack  man mit Behagen zurückdenkt. Aber vielleicht steckt hinter den anderen Beispielen doch
                                                                              ein Zweck: Für ein Café in einer angesagten Gegend New Yorks wurden die Stühle gezielt
                                                                              unbequem entworfen, sodass der Gast spätestens nach 20 Minuten aufgibt und den
                                                                              Sitzplatz für den nächsten frei gibt. Durch die Fluktuation der Gäste ließ sich der Umsatz
                                                                              pro Stunde erheblich steigern. Selbst dahinter steckt ein Konzept, das mit Fachleuten
                                                                              entwickelt wurde.
                                                                                                                             www.schmidhuber.de

                                                                                                                              AIT 6.2018  •  193
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