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REDINGS ESSAY
VERSCHLÜSSELTE
BOTSCHAFT
Ein Essay von Benjamin Reding
Ü berall Ruinen. Und Weite. Und Sand. Und im Sand versunkene Straßen, Later- schen Säulen (zerschossen), geschmiedeten Ziergittern (verbogen), ausladenden Frei-
nenpfähle, Bordsteine. An den Hauswänden Spuren der Artillerie: zerborstene
treppen (eingedrückt) und tempelartigen Architraven (herabgebrochen). Gebäude, die
Sandsteinquader, helle Spritzer, Risse, Löcher im dunkel verbrannten Gestein. Trüm- etwas repräsentieren sollten, etwas darstellen: Macht. „Das da hinten, war die italie-
merschutt quoll aus den Hauseingängen, den offenen Terrassentüren, den entglasten nische Botschaft und das daneben die japanische, vor dem Weltkrieg begonnen.“
Fensterhöhlen. Davor, hie und da, hingen noch die Rollläden, die sich rostig aus den Mein architekturinteressierter Bruder erklärte, deutete auf die Macht-Fassaden mit
Fensterhöhlen wanden, wie sich verkohltes Papier in ausgeglühten Lagerfeuern rin- ihren eilig vermauerten Fenstern und verbretterten Türen. „Aber fertig geworden sind
gelt, um beim ersten Windstoß zu zerfallen. Hier sah es aus, als sei der Krieg erst we- die, glaube ich, nicht mehr ...“ Dann wieder Stille. Nur der abendliche, laue Lufthauch
nige Tage vorbei. Und jetzt kam der Bus nicht. Jutta hatte in der Küche gestanden und und ab und an ein Knacken in den Trümmern, ein Knistern in den Mauerritzen. Ja, Zei-
plötzlich, in fast aufmüpfigen Ton, gerufen: „Jetzt zeig ich euch die Stadt.“ Dann hatte chen des letzten Krieges kannten wir: Einstöckige Hausreste, eingeklemmt zwischen
sie uns in ihren Kleinwagen gepackt und weit hinaus gefahren, ins Zentrum, zur Kai- Wirtschaftswunderbauten, Notdächer aus Teer und Pappe auf alten Mietskasernen,
ser-Wilhelm-Gedächtniskirche (wir staunten über das blaue Licht), das Europa-Center Sandsteinplatten über Hauseingängen: „Zerstört 1944, wiederaufgebaut 1950“. Auch
(wir verliefen uns in den düsteren Gängen) und ins Café Kranzler (wir bestellten Kaffee diese abgeräumten Areale kannten wir, mitten in der Innenstadt, bewimpelte Auto-
und Kuchen für 15 Mark, in meiner Hei- handel darauf, Parkplätze, manchmal
matstadt der Preis eines guten Abendes- auch nur Matsch und Rasen, im Sommer
sens mit Wein und Bier und Nachtisch). mit Kirmes, im Winter mit Weihnachts-
Aber Jutta lud uns ein, zahlte alles, er- markt ... Aber das hier, echte Kriegsrui-
freut sogar und klaglos. Jutta, die Ehefrau nen in einer von Bomben und Granaten
des Kultursemiotik-Professors, den un- zerwühlten Kriegslandschaft, hatten wir
sere Eltern kannten und in dessen Dop- noch nicht gesehen. „Da geh ich jetzt
pelhaus-Keller wir, meine beiden Brüder rein!“ Mein großer Bruder rief es, in der
und ich, jetzt bei unserem ersten eigenen Stille klang es überlaut und übermütig.
Berlin-Trip übernachten durften. Jutta, Er stand im verwilderten, vertrümmerten
ein altmodischer Name. Und sie umgab Garten der japanischen Botschaft und
tatsächlich eine Aura des Vergangenen. hatte zwischen den Brettern vor der Ter-
Dabei war sie mal ganz modern gewe- rassentür einen Spalt entdeckt, groß
sen, eine moderne Frau, in den 1950er- genug, um sich hindurchzuzwängen.
Jahren. Interessiert an Kunst, Literatur, „Aber vielleicht ist da jemand drin?!“ Ich
Politik. Jetzt verbrachte sie – ihr Gatte gab es, halblaut, meinem Bruder zu be-
hatte so viel zu tun – die meiste Zeit des denken, die beiden unzerstörten Löwen-
Tages in dem Haus am Stadtrand, spe- skulpturen, die den Gartenausgang be-
ziell dort in der Küche, unaufhörlich ar- wachten, im besorgten Blick, aber mein
beitend, und lauschte dazu den Theater- großer Bruder war schon durch die Lücke
kritiken von Friedrich Luft im Radio: Die Foto: Benjamin Reding; Italienische Botschaft, Berlin 1986 hindurch. Ich trat näher. Monumental
aktuellen Inszenierungen von Peter Stein, war die Botschaft, mit ihren hohen Porta-
Luc Bondy, Hans Neuenfels. „Oh, ich len, riesigen Fenstern, ihrer edlen Traver-
muss los!“ In der Nationalgalerie sagte tinverkleidung. Und anders als bei ihren
sie es, mit plötzlichem Erstaunen, ja Be- plumpen Botschaftsruinen-Nachbarn
sorgnis in der Stimme. „Kommt ihr mit?“ stimmten hier die Proportionen, stimm-
Der Nachmittag, ein warmer, sonniger Nachmittag, brach erst an, wir drucksten ten auch die Details, asiatisch inspirierte Ziergitter vor den Türen, dünne Bronzeprofile
herum. Ausführlich erklärte sie uns den Weg zurück, der weit war: Erst ein Bus bis zur an den Fenstern, ja einen Hauch Art-Déco, einen Hauch Eleganz verströmte der Bau.
U-Bahn, dann bis zur Endstation, dann wieder Bus, wieder der bis zu Endstation. Da- Sogar ein bisschen schön. Ich ging zur Gartentür, beugte mich vor, lugte durch die
hinter fing die Mauer an, nicht zu Ostberlin, zur DDR. „Es gibt Schweinebraten mit Rot- schmalen Ritzen: Die einstmals marmornen Wände waren durchnässt, grau verfleckt,
kraut und Knödeln“, sie lächelte ermutigend. Und wir zogen los, in die sandig-hügelige schwarz verrußt. Es roch muffig. Weit hinten eine Treppe, das Geländer umgestürzt,
Weite hinter der Nationalgalerie. Terra incognita. Mein Zwillingsbruder, der sich für davor Reste von Aktenschränken, Stühlen, Bilderrahmen und davor lag etwas, ja, wirk-
die Kunst der Architektur interessierte, sagte noch etwas und ich hörte: „Mies entwor- lich, es war ein Stahlhelm. Rostig und verbeult. Ob Berlin wohl einmal wieder so aus-
fen“ und ich antworte „Mies? Wieso? Ich fand die Galerie schön.“ Er betrachtete mich sehen wird? Der Gedanke kam plötzlich. Kaum zu fassen. Auch verbrannt roch es in
kritisch: „Mies van der Rohe, der berühmte Architekt hat sie entworfen.“ „Ah“, ich tat der Ruine, verfault. Ich wand mich ab, der Magen revoltierte. „Es stehen noch ein paar
wissend und nickte. Wir hatten Trubel, Lärm, quirlige Großstadtunruhe erwartet, die Möbel drin und kaputte Lampen, sonst ist es leer, Menschen gibt es keine.“ Mein gro-
Welt aber, die hier vor uns lag, war still und menschenleer. Aus den sanften Sandhü- ßer Bruder lehnte lässig gegen einen Travertinklotz im Garten, rauchte eine Selbstge-
geln ragten vereinzelt Ruinen hervor, mächtige Ruinen, schwer behangen mit dori- drehte. „Und ich hab Hunger“, sagte mein Zwillingsbruder. Dann kam der Bus.
046 • AIT 5.2022