Page 9 - AIT0521_E-Paper
P. 9

Spolia of Expectations
                                                                             von • by Carlijn Kingma

                                                                             www.carlijnkingma.com


                                                                           Sie sieht sich als Kartografin der Gesellschaft: Carlijn Kingma,


                                                                             Absolventin der Architekturfakultät der TU Delft, entführt uns an-

                                                                           hand einer Serie von Zeichnungen in düstere Gedächtnisland-

                                                                           schaften.  Ihre  sogenannten  „mindscapes“  sind  imaginäre

                                                                             Architekturwelten, die sich aus einstigen und heutigen Zukunfts  -

                                                                           utopien zusammensetzen. Sie zeugen ebenso von der baukünst-

                                                                           lerischen Beobachtungsgabe wie von den tiefgreifenden kunst -

                                                                           historischen Kenntnissen der Zeichnerin. Nicht selten wird, wie in

                                                                           „The  Objective  Truth  Factory“  (S.  26/27),  eine  Bruegel’sche

                                                                             Betrachterperspektive eingenommen oder die grotesk-maschi  -

                                                                           nelle Geschäftigkeit aus Hieronymus Boschs Höllenszenarien refe  -

                                                                           renziert.  Vor  allem  augenfällig  ist  aber  die  Nähe  zu  den

                                                                                      l
                                                                           dimensions osen Kerker- und Ruinenwelten des Giovanni Battista
                                                                           Piranesi. Indem Kingma dessen historisches Gesellschaftsbild aus

                                                                           dem 18. Jahrhundert mit Ideenwelten unserer heutigen Zeit –

                                                                           Kapi talismus, Religion, Politik, Visionen einer idealen Stadt –

                                                                           zusammenfließen lässt, zeigt sie uns traurigerweise auf, dass sich

                                                                           wohl nichts ändern wird: Was am Ende bleibt, sind skizzenhafte

                                                                           Ideen einer besseren Zukunft. In „A History of the Utopian Tradi-

                                                                           tion“  (S.  40/41)  stapelt  Kingma  daher  architekturhistorische


                                                                           Utopien wie archäolgische Schichten übereinander – von waghal-
                                                                           sigen Kuppelkonstruktionen der Antike über die in unendliche


                                                                           Höhen strebende Gotik bis hin zur Kühnheit des italienischen Fu-

                                                                           turismus: am Ende baut der Mensch doch nur, um später besser

                                                                           bauen zu wollen, scheint Kingma uns sagen zu wollen. Und so ist

                                                                           es auch kein Zufall, dass wir bei der kontemplativen Betrachtung

                                                                           ihrer großformatigen Bildwerke immer wieder auf den babyloni  -

                                                                           schen Turmbau zurückgeworfen werden.
   4   5   6   7   8   9   10   11   12   13   14