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Michael Ragaller
1969 in Grünstadt/Pfalz geboren 1989–1996 Architekturstudium in Stuttgart
1996–2007 Mitarbeit Architekturbüros in Stuttgart 2007–2015 Akademi-
scher Mitarbeiter an der Universität Stuttgart seit 2003 eigenes Büro
Überall im Haus sind Kunst und Design präsent. • Art and design are omnipresent in the house. Der Walser Holzstrickbau stammt aus dem Jahr 1869. • The Walser timber building dates from 1869.
von • by Michael Ragaller
D as schönste Bündner Dorf ist ... Tschiertschen. Im Februar wählten Einheimische, Äußerlich hebt sich der Bau lediglich durch eine etwas größer geratene Rautenbema-
lung auf den dunkel patinierten Holzbalken des Strickbaus ab – und vielleicht durch
Gäste und Graubünden-Fans die zehn schönsten Bündner Bergdörfer; in der Ab-
stimmung belegte Tschiertschen den ersten Platz, gefolgt von so namhaften Kandida- den grünen, hundeförmigen Briefkasten, in dem der Schlüssel für die neu ankommen-
ten wie Soglio, Bergün, Vals, Guarda oder Poschiavo. Auch wenn Tschiertschen nur den Übernachtungsgäste hinterlegt ist. (Was hiermit leider auch kein Geheimnis mehr
einen Katzensprung von Chur entfernt ist, wähnt man sich hier in einer anderen Welt. ist!) Sobald man jedoch das Gebäude durch den Vorraum betritt, leuchtet einem völlig
Im Bergdorf, auf 1.350 Metern über dem Schanfigger Tal gelegen, mit 220 Einwohnern unalpenländisch ein feuerroter Epoxidharzboden entgegen. Alte Bekannte wie Paulo
kennt jeder jeden. Die Gassen sind gesäumt von sonnengegerbten dunklen Walser- Mendes da Rocha, Herman Czech oder Serge Mouille grüßen freundlich mit ihrem De-
häusern, deren Gebälke mit farbigen Sprüchen verziert sind. Für die Augen gibt’s den sign. Möbel von Cassina, Horgenglarus, Thonet oder Artek laden sofort und in jedem
Ausblick zum Gebirgsstock der Calanda, für die Nase die frische Bergluft und für den Zimmer zum Verweilen ein. Vasen vom feinen Wiener Hoflieferanten Lobmeyr, Mit-
Gaumen die Trockenfleisch-Spezialitäten des Alpenhirts. Der Abschluss der Skisaison bringsel von Reisen und vor allem hochwertigste und sorgfältig gesammelte Kunst
wird zünftig im Eisbahnhüttli gefeiert – vornehmlich von Einheimischen und treuen schmücken das gesamte Haus. Tritt man durch den bautypisch niedrigen Mittelflur des
Stammgästen. Beim Tourismus beginnt auch das eigentliche Problem des Ortes. Die Chalets hindurch, gelangt man in einen zweigeschossig hohen, lichten Raum – nun all-
Ruhe und Abgeschiedenheit, für die man Tschiertschen schätzt, machen es schwer, seitig mit riesigen Rhomben ausgemalt und mit Murano-Lüstern und einem Konzert-
den Bergbahnbetrieb zu unterhalten. Der Skilift Gürgaletsch als Herz des kleinen, fa- flügel bestückt. Als Esszimmer ist dieser Raum das Herzstück des Chalets. Von hier
miliären Skigebiets wird immer wieder über Crowdfunding zur folgenden Saison ge- blickt man auf drei Seiten auf den Ort und ins Tal. In diesem Raum finden regelmäßig
rettet. Künstliche Beschneiung ist passé; den hierfür notwendigen Speichersee hat Kulturveranstaltungen statt, an denen auch die Dorfbewohner gerne teilnehmen.
man aus ökologischen und ökonomischen Gründen abgelehnt. Den Anschluss an die
mondäne Nachbarschaft Lenzerheide und Arosa will man vermeiden, um seine Seele Die neuen Eigentümer wollten alles außer Alpine Chic
zu bewahren. Im Sommer 2012 bestätigte sich der lange vorhersehbare Konkurs des
Alpina, des 1897 erbauten Traditionshauses, das majestätisch als größter Beherber- Im Erdgeschoss befindet sich neben der Küche auch die Wohnstube. Ausgestattet mit
gungsbetrieb über dem Dorf thront. Zuletzt war das ehemalige, schillernde Grand Bibliothek, Vinyl-Schallplattenspieler und Kachelofen lädt sie zum Schmökern ein. Sie
Hotel noch als Hostel mit Stockbetten genutzt worden, wie so viele vergleichbare Häu- ist über eine wandgroße Glasvitrine voller Kunstschmetterlinge optisch mit dem be-
ser in der Schweiz, die mit ihrer Patina an längst vergangene Zeiten erinnern. nachbarten Frühstückszimmer verbunden. Im ersten Stock befinden sich drei von fünf
Schlafkammern und das Badezimmer mit freistehender Wanne. Beim Baden kann
Tschiertschen ist das schönste Büdner Dorf man durch die Schlitze des Strickgebälks ins Freie schauen. Die Schlafkammern sind
spartanisch, aber ausgesucht möbliert. Nachttischlein oder Kommoden tragen aufge-
„Tschiertschen verdient es, als authentischer Schweizer Ferienort wiederentdeckt zu malte Kreismotive. Die Elektroinstallation ist sichtbar auf den Holzbalken geführt, mit
werden“, so lautete das Credo, mit dem der aus Malaysia stammende, chinesische Un- einfachen Fassungen aus Bakelit. Ein in zwei Grüntönen gestrichener Treppenaufgang
ternehmer Teo Ah Khing in den Ausbau des Hotels im historischen Stil und mit Miner- aus Holz verbindet die zwei oberen Stockwerke. Das Grün erinnert Armin Zink, einen
gie-Standard investierte. Das 2015 durch ihn wiedereröffnete Alpina Mountain Resort der Hausbesitzer, an den frisch gemähten Rasen von Wimbledon. Erinnerungen an
& Spa orientiere sich an Gästen, die das Ursprüngliche suchten und mit gutem Gewis- das einst so herrlich von Rem Koolhaas umgestaltete Furkahospitz mit den gestreiften
sen genießen wollten, so der Investor, der überdies Architekt und Vorstand des exklu- Fensterläden eines Daniel Buren werden wach. Der Züricher Arzt Armin Zink und sein
siven China Horse Clubs ist. Das diametrale Modell eines „idealistischen Investors“ fin- Lebensgefährte, der Ökonom Stéphane Lombardi, haben das alte Haus – motiviert
det man im Chalet Aux Losanges, einem umgebauten Bergchalet aus dem Jahr 1869. von Kindheitserinnerungen – 2015 gekauft. Davor befand sich hier das Café Engi, des-
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