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SERIEN FRAU ARCHITEKT  • MS. ARCHITECT



















               Aus: Innendekoration 28 (1927), Nr. 12                       Bauhaus-Archiv Berlin, 1927








               Erdgeschosswohnung Weißenhofsiedlung Stuttgart 1927 • Ground-Floor Apartment Weißenhof, Stuttgart 1927  Café „Samt und Seide“ – Textilausstellung Berlin 1927 • Café „Velvet and Silk“ Textile Exhibition, Berlin 1927



               Das diskrete private Paar wurde in diesen                     Pavillons kuratierten und gestalteten, wurde nur ungenügend fotografisch dokumentiert.
                                                                             Im Feld der weitgehend männlich dominierten Avant garde wurde Lilly Reich in diesen
               Jahren auch ein produktives Paar.                             Jahren mit und neben Mies als eigenständige Desig nerin sichtbar. Die Reihe der von ihr

                                                                             kuratierten Ausstellungen ist lang und wohl noch immer nicht vollständig erfasst. 1927
                                                                             wurde Reich – im letzten Moment – als Organi satorin der Hallen ausstellung in Stuttgart
                                                                             engagiert. Auf der Berliner Bauaustellung 1931 gestaltete sie in der Abteilung “die
               Herbst 1926 in Berlin; sie beschickte regelmäßig Ausstellungen, beispielsweise im  Wohnung unserer Zeit“ die Materialienschau. Die vielen Foto grafien der Hallen auf der
               Leipziger Grassimuseum. 1924/25 lernte sie Ludwig Mies van der Rohe kennen, dem sie  Berliner Bauausstellung geben einen Eindruck ihrer räumlichen Insze nierung visueller
               vergeblich die  Wege als Frankfurter Stadtbaurat  zu ebnen  versuchte. Im  Zuge der  Mate rialität in neuen Präsentationstechniken. 1931 entwarf Reich ihr erstes Musterhaus
               Planungen für dessen Auftrag Haus  Wolf in Guben (1925–27) kommt es  zur ersten  für die Bauausstellung, das mit dem von Mies durch eine Mauer verbunden war. Sie trat
               Zusammenarbeit bei der Einrich tung, die aber, im Unterschied  zu den folgenden  wieder unter eigenem Namen auf und richtete ein Erdge schoss haus und zwei Boarding -
               Aufträgen, erst posthum bekannt  wurde. Guben stand am Beginn ihrer  wichtigsten  wohnungen ein. Unter den realen Einrichtungsaufgaben war es das Haus Tugendhat
               Lebensphase. Das diskrete private Paar wurde in diesen Jahren auch ein produktives  (1928–30) in Brünn, das – in den Jahren des Existenzminimums – lange öffentlich disku-
               Paar: „Das Paar wiederum ist nicht denkbar ohne ein Drittes. Dies Dritte stellt eine fle-  tiert wurde. Grete Tugendhats Berichte von 1969 dokumentieren Reichs Bedeutung bei
               xible Instanz dar. Dabei nimmt es vielerlei Gestalt an, zum Beispiel in der Kunst“, so die  der Planung und Ausführung der Inneneinrichtung des Hauses in Brünn. Mies war seit
               Kunsthistorikerin Renate Berger. In diesem Sinne wurden Mies und Reich ein „Kunst -  Sep tember 1930 Direktor des Bauhauses Dessau geworden. Ab Januar 1932 arbeitete
               paar“. Bei der Weißenhofausstellung 1927, deren künstlerischer Leiter Mies van der Rohe  Reich hier als Leiterin der zusammengelegten Bereiche Weberei und Inneneinrichtung.
               war, wurde ihre Kooperation sichtbar. Das erste moderne Interieur, das von ihr publi-  Hier kam sie auch mit einer Reihe begabter Mies-Schüler zusammen, die nicht emigrier-
               ziert wurde, war die Erdgeschoss wohnung (Nr. 8) in dem Block von Mies van der Rohe.  ten: Es waren Herbert Hirche, Eduard Ludwig und Hermann Blomeier. Reichs Habitus ori-
               Reich ist auch für die Bestückung der unter Mies’ Autorschaft genannten Wohnungen (Nr.  entierte sich wohl eher an männlichen Rollenmodellen, sie galt als sicher im Qualität s-
               10,  11,  12)  zuständig.  Sie  wählt  Einrichtungsstücke  aus  –  Lampen,  Polster sessel,  den  urteil und kompromisslos. Damit weckte sie, wie aus vielen Zeugnissen hervorgeht, bei
               Drehstuhl der Firma Rockhausen, Stühle der Firma Thonet, die P. -H.-Leuchte von Poulsen  Männern wie bei Frauen Konkurrenzgefühle.
               und Vorhänge –, die oft identisch in beider Wohnungen standen. Reich entwarf Möbel für
               ihre Wohnung und Mies entwarf eine erste Serie von Ein richtungs gegenständen: den  Größere Teile ihres künstlerischen Werkes verbrannten ...
               Weißenhofstuhl mit und ohne Lehne, den runden Glastisch und aus Holz gefertigte
               Teetische, Esstische und Bücher regale. Diese Möbel standen dann teilweise auch in  Nach 1933 erschwerten sich die Arbeitsbedingungen, doch lassen sich Umbau aufträge,
               Reichs Wohnung. In beiden Wohnungen wurden schließlich im Lauf der Aus stellung die  Einrichtungen und Ausstellungsbauten nachweisen. 1933/34 konnte Reich für die
               Holzmöbel durch die moderneren, gerade fertiggestellten vernickelten Stahl rohrmöbel  Ausstellung „Deutsches  Volk“ – deutsche Arbeit die Sonderschau „Glas, Porzellan,
               ersetzt, und beide Wohnungen waren teilweise mit weißem Linoleum ausgelegt. In die-  Keramik“ einrichten. Der letzte große Auftrag betraf die Textilausstellung in Paris 1937, aus
               sen offenen Raumstrukturen, aber auch in anderen Räumen, entwickelten sich Aus -  der Mies herausgedrängt wurde. Mies erhielt 1937 eine erste USA-Einladung, der 1938
               tausch und Miteinander ab 1927 kontinuierlich weiter. Wichtig waren auch die Mate -  eine zweite folgte, die er dann zur Emigration nutzte. 1939 besuchte ihn Reich in den USA,
               rialien und deren Verarbeitung: Vorhänge aus Seide, einfarbige Teppiche aus Schaf wolle,  fuhr aber wieder zurück. Sie habe – anders als Mies – keine Einladung zur Lehre gehabt,
               Tropenhölzer und Furniere; selbst Türbeschläge und Griffe strahlten Solidität, Wärme und  hatte also keine Existenzsicherung. Sie berichtete Mies in langen Briefen vom Leben in
               Formschönheit aus. Öffnung und Geborgenheit wurden inszeniert. Hinzu kam eine deli-  Deutschland und verwaltete die Patentange legenheiten ihrer und seiner Stahlrohrmöbel.
               kate Farbauswahl. So entstanden neue Gesamtkunst werke, deren fotografische Reprä -  Während des Krieges war sie dienstverpflichtet. 1944 sorgte sie für die Auslagerung von
               sen tationen bis heute faszinieren. Auf schwer beschreibbare Weise schufen sie Interieurs  Mies’ künstlerischem Nachlass nach Mühlhausen in Thüringen und rettete ihn damit.
               als Inszenierungen, denen es gelang, den Raum zu aktivieren und Einla dungen zum  Größere Teile ihres künstlerischen Werkes verbrannten bei Bombenangriffen oder gingen
               Leben zu sein.  1927 entstanden drei Ausstellungsräume, die unter beider Namen publi-  verloren.  Nach 1945 engagierte sich Reich für die  Wiederbegründung des  von den
               ziert wurden. In Stuttgart im Rahmen der Werkbund ausstellung waren es der Linoleum -  National sozialisten  aufgelösten  Werkbundes  und  in  einer  Interessengemeinschaft
               pavillon, der Wohnraum in Spiegelglas und schließlich in Berlin das Café „Samt und  „Innenausbau“ mit Eduard Ludwig.  Sie erhielt einen Umbauauftrag im kriegszerstörten
               Seide“ für die Ausstellung „Die Mode der Dame“. Reichs und Mies’ umfangreiche Aus -  Berlin und einen Lehrauftrag an der Hochschule der Künste. Lilly Reich starb am 11.
               stellungstätigkeit im  Zuge der  Weltausstellung in Barcelona 1929,  wo sie  zahlreiche  Dezember 1947 an einer Krebserkran kung.


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