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REDINGS  ESSAY

                                                     NACH DEM




                                                MILLENNIUM






                                                               Ein Essay von Benjamin Reding






               N   eunzehn Jahre. Das ist viel Zeit. Oder nicht? Die Zeit vom ersten Schrei bis zum  Die Hauptstadt begann, Fuß zu fassen, wurde trendy, wurde „in“. Die Büros sind
                   Schulabschluss. Viel Zeit. Die Reifezeit eines 99er Chateau Margaux, Kaufpreis
                                                                             Gesamt kunstwerke, strahlende Preziosen,  voller handgemachter Einzelstücke,  von
               3.990 Euro. Die ideale  Zeit. Nur etwas mehr, als die  vier Amtszeiten  von Angela  den Türklinken bis zu den Deckenstrahlern. Das Geld der Investoren, aber auch die
               Merkel. Viel Zeit. Oder zu wenig? Als Zeit einer Ehe wäre es noch kein Fest wert, und  Zu kunftseuphorie vor der Jahrtausendwende machten es möglich. Das wäre mal was,
               kein Firmenmitarbeiter bekäme nach neunzehn Jahren schon die goldene  jetzt einfach losfahren und anschauen, ob und  wie die  Visionen  von 1999 der
               Armbanduhr. Wenig Zeit. Neunzehn Jahre, das ist irgendwie dazwischen, noch nicht  Wirklichkeit standgehalten haben. Die Entwürfe sind elaboriert, die Ausführung kost-
               Geschichte, in Stein gemeißelt und ledergebunden, nach Historiker-Analyse  zum  bar, so was wird nicht weggeschmissen. Ich fahre los.
               Gruseln, Belächeln oder Vergessen freigegeben und doch nicht mehr Teil vom Hier  Erste Adresse:  Licht Kunst Licht, Lichtplanungsbüro, Berlin-Kreuzberg, Architekt: Edwin
               und Jetzt, noch le bendig, noch in seelischer Griffnähe. Die Geschenke vom vorletzten  Smida. Man kommt nicht rein. Ein Stahltor versperrt den Durchgang. Also irgendwo klin-
               Weihnachtsfest, will man sich daran erinnern?                 geln und schummeln. Ich sage: „Paketdienst.“ Ein Surren und ich bin im Hof. Gut, dass































               Foto: Hiepler, Brunier                                       Foto: Michael Najjar




               Die erste Adresse: Licht Kunst Licht, Lichtplanungsbüro, Berlin-Kreuzberg, Architekt: Edwin Smida  Die zweite Adresse: Kreativagentur Ledesi, Berlin-Kreuzberg, Architekt: Wolfgang Staudt

               Vor 19 Jahren, im Oktober 1999, erschien in der AIT unter dem Titel „Vision und Wirk -  die AIT nicht nur gewissenhaft Ort, Architekt und Auftraggeber nennt, sondern immer
               lichkeit“ ein Artikel über aktuelles Büro-Design. Es war die Zeit der New Economy, der  auch die Grundrisse abbildet. Das Büro muss im Hinterhaus gewesen sein, vielleicht
               Globalisierung, der Dotcom-Blase. Es war vor der Jahrtausendwende, man erwartete  vierte Etage, rechts vom Treppenhaus. „Licht Kunst Licht?“ „Die sind raus, schon lange.“
               Neues, Großes, nie Dagewesenes. Auch die AIT. Sie forderte „Visionen für das nächste  Der ältere Herr schlurft mit Einkaufstüten quer durch den Hof. „Gibt’s die noch ... ich
               Millennium“ und skizzierte emphatisch die Grundzüge einer „neuen Büro -  meine, woanders?“ Er zuckt mit den Schultern. „Schauen Sie doch im Internet nach.“ Ich
               architektur“: „Visionär zu denken bedeutet, überkommene Schemata zu überwinden  klopfe an der Tür, versuchsweise im vierten Stock. Keine Klingel, nur ein Aufkleber mit
               und  wirklich Neues  zu entwickeln. Das belegen die in diesem Heft  vorgestellten  den Namen einer WG. Niemand öffnet.
               Büroräume der besonderen Art. Hier sind Visionen Wirklichkeit geworden. Hier wer-  „Ich wollte Deutschlands berühmtester Designer werden.“ Herr Smida lehnt gegen den
               den Erlebniswelten geschaffen, die zeigen, dass die Wirklichkeit im Büro lebendig  Konferenztisch und lächelt. Jung sieht es aus, viel jünger als die 50, die er ist. Er wurde
               und vielgestaltig sein kann.“ Dann zeigt das Heft Beispiele: eine Lichtplanungsfirma,  et was anderes: einer von Deutschlands wichtigsten Lichtdesignern. Er arbei tet für Licht
               eine Kreativagentur, ein Internetdienstleister, eine Werbeagentur, allesamt in Berlin.  Kunst Licht, deren erstes Büro er damals entworfen hat. „Ich kam direkt aus dem



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